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Patrick Binhack

von Patrick Binhack

Story

Heute ist einer dieser Tage.

Als ich das Grundstück betrat, stand die Mittagssonne noch am Himmel. Mittlerweile ist es Nacht. Über dem See, der wie ein dunkler Spiegel vor mir liegt, sitzt der Mond und überblickt das weitläufige Gelände. Er spiegelt sich wie ein Fleck leuchtend weißer Farbe auf dem tintenschwarzen Wasser.
Ist der Mond einsam?, frage ich mich, als ich seinen Zwilling auf dem Wasser betrachte.
Ich bin es.
Seufzend stütze ich meine Ellbogen auf den Schenkeln ab und lege meinen Kopf in meine Hände. Meine Beine hängen kraftlos über den Rand des Holzstegs. Unter meinen Füßen mein blasses Spiegelbild – eine traurige, hässliche Fratze, die mich mit einer Mischung aus Verachtung und Hilflosigkeit beobachtet. Schon seit Stunden sitze ich hier und starre ins Wasser; in der Hoffnung, unterhalb der dunklen Oberfläche, jenseits meines Spiegelbilds, einen Ausweg zu entdecken. Bis jetzt habe ich nichts erreicht. Wenn ich die Augen schließe und mich konzentriere, sehe ich Schemen im Wasser. Zwei undeutliche Menschen, ein liebendes Paar ohne Gesichter. Jeder Versuch, sie zu erkennen, lässt sie vor meinen Augen zerfließen und auf den Grund des Sees sinken.
»Was soll ich tun?«, frage ich flüsternd in die Nacht. Sie schweigt.
Seufzend greife ich in die Innentasche meines Mantels und ziehe mein Buch heraus. Ich bezeichne es nicht als mein Buch, weil es von mir ist, sondern weil es ein Teil von mir ist. Jede Seite, jedes Wort – ich kenne es auswendig.
Der schwarze Schmetterling, lese ich den Titel im Gedanken mit.
Der Einband ist weiß, auf der Vorderseite prangt ein pechschwarzer Schmetterling. Er wirkt zerbrechlich und zugleich bedrohlich, wie die Scherbe einer Puppe aus schwarzem Porzellan. Meine Daumen streichen über den abgegriffenen Einband, während ich das Buch mit beiden Händen festhalte. Auf der Oberseite wellen sich einige Seiten, als wären einzelne Regentropfen darauf gefallen. Ich weiß, dass es kein Regen war und als ich zurückdenke – an die Nacht, in der ich zu dem wurde, der ich heute bin – schnürt sich mir die Kehle zu. Aus den Tiefen meines Verstandes höre ich ihre Stimme.
Freundlich, engelsgleich, voller Liebe.
Ich schließe die Augen, atme tief ein. Die Abendluft riecht nach wilden Gräsern und der Wind weht eine kühle Brise über den See. Eine bekannte Note schleicht sich unter den Geruch des Waldes. Sie ist steril und beißend, wie das Innere eines Krankenhauses.
Noch bevor ich die Augen öffnen kann, höre ich ihre kindliche Stimme.
»Hallo.«

© Patrick Binhack 2024-05-27

Genres
Romane & Erzählungen, Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Dunkel, Emotional, Inspirierend, Mysteriös