von Katrin Ring
Ich bin bis zur Thalassoplattform am Dünensender gefahren, habe mein Auto auf dem Parkplatz abgestellt und mache mich nun auf den Weg nach oben. In den letzten Tagen bin ich schon oft an der oben auf einer Düne thronenden Terrasse vorbeigekommen. Von dort muss die Aussicht großartig sein! Ein Rundumblick über die Insel, über das Wattenmeer bis zum Festland und hinaus aufs offene Meer. Bisher habe ich den Aufstieg gescheut. Aber heute reicht die Kraft, hoffe ich. Ich gehe die paar Schritte vom Parkplatz durch ein kleines Wäldchen, bis ich am Fuß des Weges ankomme, der auf die Düne führt. Ein Holzweg, gezimmert aus stabilen Holzbohlen, mit einem Geländer zum Festhalten. Ich bin erstaunt: Da hat jemand mitgedacht und tatsächlich einen Weg ganz ohne Stufen in die Dünen gebaut! Barrierefrei, sogar mit Rollstuhl oder Kinderwagen schaffbar! Damit die Steigung nicht zu krass ist, schlängelt sich der Weg in mehreren großen Windungen die Düne entlang. Die längere Strecke ist also der Preis für die barrierefreiheit. Na gut, man kann nicht alles haben. Ich bin jedenfalls heilfroh, keine Stufen steigen zu müssen. So kann ich mir meine Kraft gut einteilen und ruhigen Schrittes, einen Fuß vor den anderen, den Anstieg wagen. Das, was für mich vor zwei Jahren noch ein Klacks gewesen wäre, kostet mich jetzt unglaublich viel Kraft. Kraft, die ich mir gut einteilen muss. Ich muss mir bei jeder Unternehmung gut überlegen: Reicht die Energie? Und ist das Erlebnis die Kraftinvestition wert? Denn wenn die Kraft einmal aufgebracht ist, steht sie nicht mehr für anderes zur Verfügung. So ist das eben mit einer chronischen Erkrankung, so ist das mit LongCovid.
Ich gehe langsam, Holzbohle für Holzbohle. Seitdem ich so langsam geworden bin, nehme ich meine Umgebung anders wahr. Ich eile nicht an Gräsern und Halmen vorbei, ohne sie wahrzunehmen. Die Entschleunigung, die die Krankheit mir aufzwingt, ermöglicht mir, die Dinge um mich herum intensiver wahrzunehmen. Die Farbe des Dünengrases. Die Maserung im Holz. Die Wärme der Wintersonne.
Für Menschen wie mich ist in jeder Kehre des Weges eine kleine Bank angebracht, die zur Pause einlädt. Dankbar sinke ich auf die auf halber Strecke und atme tief durch. Ich trinke einen Schluck Tee aus meinem Thermobecher, den ich in weiser Voraussicht mitgenommen habe. Nach ein paar Minuten mache ich mich auf den restlichen Weg nach oben. Allmählich merke ich, dass meine Beine schwach werden. Aber es ist nicht mehr so weit. In Sichtweite winkt schon Frau Möwe. Sie sitzt auf einem der drehbaren Holzcocons, in denen der Gast windgeschützt den Rundblick über die Insel genießen kann. Schnaufend lasse ich mich in den Korbsitz fallen. Na, bist du heute auf dem Holzweg, schmunzelt Frau Möwe. Ich genieße die bombastische Aussicht über die Insel und das Meer bis zum Horizont. Nein, stelle ich fest. Dieser sprichwörtliche Holzweg war genau der richtige Weg für mich. Rundumblick, barrierefrei erreichbar. Aussicht in alle Richtungen. Freiheit trotz Einschränkung. Weil aufmerksame Menschen beim Bau mitgedacht haben. Also, wenn das so ist, dann bin ich eigentlich ganz gerne auf dem Holzweg!
© Katrin Ring 2024-02-10