von Lucien Junker
Heute gehe ich früh genug. Ich will nicht verschwitzt vom Velo steigen und zu spät kommen. Mein Platz Nr. 6 befindet sich in der Mitte der ersten Reihe im “Theaters an der Effingerstrasse”. Ich möchte nicht, dass die Leute, welche ihre Plätze schon eingenommen haben, aufstehen müssen, um mich durchzulassen. Die Verhältnisse sind sehr eng. Die Beine haben zur Bühne hin auch kaum Platz. Covid 19 wegen, darf nur jeder zweite Platz benützt werden. Entsprechend schnell war die Vorstellung ausverkauft. Mein Platz war noch der letzte verfügbare. Ich hatte Glück.
Weniger Glück ist mir heute beschieden. Versetzt hinter mir sitzt ein nicht mehr ganz junges Ehepaar. Um die Schauspieler gut zu verstehen, trage ich mein Hörgerät. So verstehe ich – leider-auch jedes Wort des Ehepaars. Der Mann ist übel gelaunt. Seiner Frau fährt er ständig über den Mund. Um mir die Zeit zu vertreiben, ein Programmheft lag nicht auf, lese ich auf meinem Handy die Nachrichten. Auch dies stösst dem Herrn sauer auf. “Schau, nun sind wir so weit, jetzt starren schon die Alten ständig auf diese Dinger”. Wenig später klopft er mir auf die Schulter. “Bitte tragen sie ihre Maske wie es sich gehört”. Seit ich mich erinnern kann, nenne ich eine Hakennase mein Eigen. Mein Profil wird gemeinhin als markant wahrgenommen. Oft findet die Maske auf der Nase zuwenig Halt und rutscht auf die Oberlippe herab. Mit einer entschuldigenden Geste rücke ich die Maske zurecht. Zeitgleich hebt sich Vorhang. Schnell das Handy in die Jacke gesteckt und diese auf den benachbarten leeren Stuhl gelegt. “ Harold und Maude” ziehen mich in ihren Bann. Plötzlich durchfährt es mich wie vom Blitz getroffen. Habe ich den Klingelton abgestellt? Gehemmt von der Bemerkung des schlecht gelaunten Herrn, habe ich Hemmungen, diskret nach dem Handy zu suchen. Zudem würde das Display im dunkeln Zuschauerraum störend hell aufleuchten. Übrigens, wer schon kommt nach 20 Uhr auf die Idee, mir anzurufen, suche ich mich zu beruhigen. Ich lasse es sein wie es ist und versuche, einen letzten Rest von Aufnahmevermögen zu retten.
Der Poker geht auf. Die Aufführung findet ungestört ihr Ende. Mein Hemd verschwindet verschwitzt in der Wäsche.
Und ja, der Klingelton war abgestellt.
© Lucien Junker 2021-05-05