von Annika Schmidt
Er ging auf wackeligen Beinen aus dem Zimmer, die Treppen hinunter, die Flure entlang, hinaus dem Gebäude. Diese Entscheidung war die schwerwiegendste, die er in seinem Leben jemals zu treffen haben würde. Das hatte ihm die Frau klargemacht. Aber Harvey blieb bei seinem Nein.
Fast hätte er damit gerechnet, dass man ihn aufhielt. Oder dass in seinem Distrikt wieder Männer mit Trenchcoat zustiegen und ihn mit freundlicher Bestimmtheit mitteilten, dass er seine Entscheidung widerrufen müsse. Aber es geschah nichts. Und Harvey bekam ein schlechtes Gewissen, weil er dem System so etwas unterstellt hatte. Es war in Ordnung, Nein zu sagen. Dieser Staat zwang niemanden dazu, seine eigene Schwester auszuspionieren.
Es dauerte nicht lange, da lernte Harvey, wie falsch er gelegen hatte. Am nächsten Tag schon fand er auf seinem Display eine harsch formulierte Meldung. Seine Arbeitsstunden würden für heute verkürzt, stattdessen sollte er sich pünktlich zu Beginn der Abendstunden in seinem Distrikt einfinden.
Er kam dem Befehl nach. Und schon als das Shuttle in seine Straße ein bog, sah er die Männer vor seiner Haustür stehen. Wenn er gekonnt hätte, er wäre weggelaufen. Aber das Shuttle steuerte, hatte die Kontrolle und setzte ihn direkt vor seiner Tür ab. »Mr. Xenos«, begrüßte ihn ein Mann, den er als den Blauäugigen vom Amt wiedererkannte, »Sie haben zehn Minuten, um Ihre Sachen zu packen und sich hier unten startbereit einzufinden.« Harvey blinzelte perplex, aber gab sich Mühe, gefasst zu klingen: »Ich verstehe nicht, Sir.« »Sie sind mit sofortiger Wirksamkeit einberufen. Ihr Typ wird für Forschungszwecke verlangt.« Er wollte noch etwas sagen, da öffnete ihm der andere Mann die Tür und wiederholte: »Zehn Minuten.«
Alle Bürger Skywalls, die das sechzehnte Lebensjahr erreicht hatten, wurden über den Umgang mit einer Einberufung informiert. Harvey brauchte nicht lange, um seine Sachen zu packen. Doch es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, in der er an die Gesichter von Menschen dachte, die zu einem Forschungseinsatz abkommandiert worden waren. An Gesichter, die er anschließend nicht wieder gesehen hatte.
Im Wohnzimmer stand seine Familie versammelt. Harvey umarmte seine Mutter, der Tränen in den Augen standen. Und seinen Vater, der ihn ganz fest an sich drückte. Dann Eleen. Die Umarmung war kurz und bedeutungslos. Er hatte es nicht für sie getan. Sondern für seine Eltern. Und ihren Antrag, der auf irgendeinem Schreibtisch im Amt lag. Ein drittes Kind. Natürlich wäre er abgelehnt worden, wenn man von der missratenen, systemkritischen Tochter gehört hätten.
Harvey ging nach draußen. Da standen die Männer. Und neben ihnen eine Frau. Er brauchte einen Moment, um sie als die Frau vom Hologramm wiederzuerkennen. In echt sah sie weniger bunt aus. »Sie …«, begann er und taumelte einen Schritt auf sie zu, »es ist mein Recht abzulehnen!« Gelassen blickte sie ihn an.« »Und einer Einberufung Folge zu leisten ist ihre Pflicht, Mr. Xenos.«
© Annika Schmidt 2022-08-24