von Iris Löcher
Ich schämte mich. Weil ich mich freute, dass ich in zwei Tagen in den Urlaub fahren würde. Abstand bekäme. Abstand zu meinem kranken Bruder und all der Angst, dem Stress und der Zerrissenheit, die mein Leben die letzten Monate dominiert hatten.
Ich wollte weg von dem Geier, der seit Anfang des Jahres über uns kreiste. Von dem ich schon geträumt hatte, als er noch keinen Namen hatte.
Es war einige Monate her, es war eine der Nächte gewesen, nach denen mir ein intensiver Traum in allen Details in Erinnerung geblieben war und auch nicht in den darauffolgenden Tagen verblassen wollte.
Ich hatte von einer riesigen Katze mit hellem Fell und ein paar wenigen dunklen Tupfen geträumt. Sie war so groß wie ein Mensch gewesen, und genauso hatte sie auch da gestanden, aufrecht auf ihren Hinterpfoten. Sie hatte mein Lieblings-Shirt angehabt. In meinem Traum hatte ich gedacht, das Shirt war ihr doch viel zu eng, sie würde es ausleiern! Als hätte man sich darüber bei einem solchen Anblick am meisten Gedanken gemacht.
Dann war ein Geier aufgetaucht, der genauso riesig gewesen war wie die Katze und widerlich ausgesehen hatte. Ohne zu zögern, hatte sich die Katze auf ihn gestürzt und begonnen, ihn aufzufressen. Der Anblick hatte mich geekelt und gegruselt und trotzdem hatte ich nur da gestanden und wie gebannt zugesehen. Neben mir hatte ein Mann gestanden.
Da mir der Traum viele Tage danach noch nachhing, erkundigte ich mich, welche Bedeutung die Tiere in meinem Traum gehabt haben könnten. Eine helle Katze könnte eine Warnung sein, sagte man mir. Ein Geier in einem Traum verhieße nichts Gutes, er sei etwas Bedrohliches und ein Hinweis auf Gefahr. Er könnte auch eine Warnung vor einer schlimmen Krankheit sein.
Nicht lange, nachdem ich den Traum geträumt hatte, bekam mein Bruder seine Diagnose: ALS.
Der Geier hatte einen Namen bekommen.
Waren das in meinem Traum mein Bruder und ich gewesen? Und wenn die Katze den Geier aufgefressen hatte, bedeutete das nicht, dass es Hoffnung gab, dass er seine Krankheit besiegen konnte? Die Katze hatte mein Shirt an, hieß das, dass ich Hilfe bekommen würde, dass ich nicht allein für meinen Bruder würde kämpfen müssen?
Zwei Jahre nach der Diagnose starb mein Bruder an ALS.
Im Laufe dieser zwei Jahre fand eine Katze, Frida, weiß, mit wenigen dunklen Tupfen, den Weg zu mir. Zum Glück ist sie so klein, wie eine Katze sein sollte und trägt nicht meine Shirts.
Die Verbindung zwischen Frida und mir ist einzigartig.
© Iris Löcher 2025-05-24