Der Pfarrer predigt nicht zwei Mal

MISERANDVS

von MISERANDVS

Story

Menschen in meinem Umfeld schätzen an mir meine Ruhe, meine Gelassenheit. Selbst, wenn der Hut brennt, ja, wenn die Welt untergeht, dann bin ich ruhig. agiere überlegt, und meine Stimme ist sanft und leise. Möchte man kaum glauben, wenn man mich sieht. Ein “Riegel”, wie Vati mich immer nannte. Dass es in meinem Herzen und meinem Verstand ständig brodelt und kocht, ich keine Ruhe finde, ein Getriebener vor dem Herrn bin, wissen nur sehr wenige Menschen. Ich hasse es, mich wiederholen zu müssen, denn ich drücke mich klar und unmissverständlich aus.

Wie gesagt, ich bin ein sanfter Mensch und leise. Für gewöhnlich.

Als meine Schwester mich mit ihrem Kleinen in Wien besucht, da fahren wir zu meiner damaligen Freundin. Sie hat gekocht, und wir schmausen alle zufrieden, plaudern entspannt. Nur der Kleine quängelt. Es schmeckt ihm nicht, und er will aufstehen. Damit er Ruhe gibt, lässt meine Schwester ihn vom Tisch. Sie ist inkonsequent in Sachen Erziehung. Es gefällt mir nicht, dass der Kleine keine Regeln mitbekommt und seinen Willen immer durchsetzt. Jedoch, es geht mich nichts an. Er geht zur Tasche mit seinen Spielsachen und holt einen Plastikstab heraus. Damit fährt er die Tapete entlang. “Bleib weg von der Steckdose.”, sage ich ruhig. Er sieht mich an. Dann fährt er mit dem Stab wieder zurück, beobachtet mich dabei. Als er wieder in die Nähe der Steckdose kommt, fährt er mit dem Stab in einem weiten Kreis drum herum. Und ich sage noch einmal, leise und ruhig: “Bleib weg von der Steckdose.” Er grinst. Er will es wissen. Und in Runde drei auf seiner Tapetenbahn stochert er mit dem Stab in die Dose. “Weg von der Steckdose, verdammt noch mal!”, brülle ich auf einmal los. Messer, Gabeln, Löffel, alles fliegt durch die Luft, von erschrockenen Händen im Schock hochgeworfen, und landen scheppernd auf dem Glastisch. Der Kleine heult erschrocken los: “Ich bin ja gar nicht bei der Steckdose!” und lässt den Stock fallen. Meine Schwester starrt mich an, meine Freundin auch. Sie ist käseweiß im Gesicht.

“Gott, hab ich mich erschreckt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Dass du so laut sein kannst!”, sagt sie und fasst meinen Arm. Ich seh sie an und sage: “Ich bin doch gar nicht laut, Liebelein.” Meine Schwester nimmt den Kleinen auf den Arm, der mich heulend und böse ansieht. “Du darfst nicht in die Steckdose fahren.“, sagt sie und wischt ihm die Tränen weg. Ich lege das Besteck hin, wische mir den Mund mit der Serviette, sehe ihn an und sage: “Das macht er auch nie wieder, nicht wahr?” Er starrt mich an, dann schüttelt er den Kopf. “Das hättest du auch nochmal leiser sagen können.”, meint sie vorwurfsvoll. Und ich sage, was Vati immer sagte: “Der Pfarrer predigt nicht zwei Mal.” Und ich sehe auf die Hand meiner Freundin auf meinem Arm und lache: “Warum zitterst du denn so?”

Der Kleine kommt, ich heb ihn hoch. Er drückt sich fest an mich, und ich leg meine Pranken sanft um ihn. “Alles wieder gut?” Er nickt, spitzt die Lippen, und ich bekomm ein Küsschen. Alles wieder gut!

© MISERANDVS 2021-05-03

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