Die Treppe

Miriam Müller

von Miriam Müller

Story

Ich bin in einem Dorf im Süden der Republik aufgewachsen, das in einem kleinen Tal inmitten zweier Bergläufe liegt. Ein dunkler Fichtenwald klettert einen dieser beiden Bergläufe hinauf, den anderen ziert ein Mischwald, von Wohnhäusern und Sträßchen durchschlängelt, auf dessen Spitze eine alte Kapellethront, das Wahrzeichen meines Heimatdorfes.

Vielleicht liegt es an der Natur des Ortes, vielleicht auch an den Umständen, die ich damit verbinde, aber in diesem Tal habe ich nie so richtig atmen können. Selbst der Wind schien hier unten nicht sein zu wollen, und so bin ich oft auf eine der Anhöhen geklettert, um der Enge zu entkommen. Der Ort, an den ich dafür immer wieder zurückkehrte, war eine Steintreppe, die ich einmal kurz vor Weihnachten bei einem Spaziergang durch den Fichtenwald entdeckt hatte. Auf diese Treppe habe ich mich damals zum ersten, und dann Woche für Woche weitere Male gesetzt, hinab auf das Dorf gesehen und die Autos beobachtet, deren Lichter wie tanzende Glühwürmchen auf- und wieder abglommen.

Die Treppe musste wohl zwischen zwei und drei Metern breit sein, in ihrer Mitte ein Geländer, und genau vierundzwanzig Stufen lang, ich habe oft mitgezählt, als ich sie hinaufgegangen bin. Ich habe mich immer auf die zweitoberste Stufe gesetzt, die Beine angewinkelt, mit dem unteren Ende meines Rückens noch ihren Stein berührend, der sich rau und hart gegen meine Kleider presste. Direkt über der Treppe ragten in Sechserabständen kleine Straßenlaternen gen Himmel, in deren oberen Kurven sich Spinnen im Frühling und Sommer ihre Nester bauten.Es war ein schlicht aussehender, ruhiger Ort; man würde ihm kaum Bedeutung beimessen, wenn man seine Geschichte nicht kannte. Doch für mich ist er viele Jahre ein zweites, irgendwann mein einziges Zuhause gewesen. Der Ort, an dem ich atmen konnte, an dem meine Träume wieder Platz fanden.

Hier hat es nie nach frisch gebackenem Kuchen und Sonntagmorgenkaffee gerochen, aber oft nach Regen und feuchter Erde, und das war mir mindestens genauso lieb. Der Steintreppe erzählte ich, was ich in der Schule gelernt hatte, und warum ich meine Schwestern manchmal doof fand. Ihr habe ich erzählt, in wen ich heimlich verliebt war, und welche verbotenen Träume ich in mir trug, und sie hütete meine Geheimnisse besser, als jede andere Freundin. Sie hat meine Tränen gespürt, und meine bitteren Flüche gehört, aber sie ist auch mein Boden gewesen, auf dem ich ausgelassen und frei zu meiner Musik tanzen konnte.

Auf ihr bin ich tausendmal gestorben, nur um dann tausendundeinmal wieder aufzuerstehen. Hier habe ich meinen Mut gefasst, und mich selber gefunden, in Dunkelheit und weit über der Stadt, bis ich sie irgendwann verließ.

© Miriam Müller 2022-08-24