Duende

Benedikt Hofner

von Benedikt Hofner

Story

Er mochte den Job als Museumswärter. Durch die Gänge streifen, die Werke betrachten, die größtenteils harmlosen Besucher im Blick behalten. Es war ruhig und doch mit Verantwortung verbunden. Da sein Leben nicht immer in geregelten Bahnen verlief und er auf seinen Sohn aufpassen musste, war es genau das Richtige. Er konnte es sogar einfädeln, dass er seine Schichten vormittags hatte, wenn sein Junge in der Schule war. Nur heute funktionierte das leider nicht. Der übliche Nachtwächter war krank geworden und so musste er ausnahmsweise einspringen. Deshalb stand er nun hier und wartete, bis die letzten Gäste das Museum verließen, damit er abschließen und in Ruhe seine Schicht beginnen konnte. Er hatte sich vorbereitet und war mit genügend Kaffee, Essen und einem Buch ausgestattet, doch eigentlich freute er sich darauf, die Kunstwerke für sich zu haben. Er stellte es sich spannend vor, im Dunkel der Nacht durch das Museum zu wandern und ungestört die Ausstellungen erkunden zu können. Vor allem auf ein Gemälde war er gespannt. Der Schrei von Edvard Munch. Er konnte gar nicht genau sagen, was ihn so daran ansprach, aber irgendwie wirkten die verzerrten Formen und flammenden Farben sowohl anziehend als auch abschreckend auf ihn. Da es ein bekanntes Gemälde ist, zieht es die Besucher immer dorthin. Doch die meisten machen lediglich ein Foto, als Beweis, dass sie es gesehen hatten, und hasten dann zum nächsten Gemälde. Nachdem er seinen ersten Kontrollgang erledigt hatte, wartete er mit heißem Kaffee aus seiner Thermoskanne, bis es dunkel wurde, bevor er mit seiner nächtlichen Besichtigung begann. Er wanderte durch die dunklen Gänge, nur begleitet vom Lichtstrahl seiner Taschenlampe. Dabei umging er anfangs absichtlich Munchs Schrei, den er sich für den Schluss aufbewahren wollte, doch es dauerte nicht lange, bis er der Versuchung erlag. Fasziniert näherte er sich dem Gemälde. Er hatte mal gehört, dass es gar nicht die Person auf dem Bild ist, die schreit. Vielmehr soll sie sich die Ohren zuhalten wegen eines markerschütternden Schreis, der durch die verzerrte Landschaft hallt. Keine Ahnung, ob das stimmte, aber auf ihn wirkte sie sehr angsterfüllt. Er stand nun unmittelbar vor dem Gemälde und starrte es schon so lange an, dass die Linien verschwammen. Kurz dachte er sogar, dass sich die Augen bewegten, was natürlich Unsinn war. Er wollte sich abwenden und gehen, doch etwas hinderte ihn daran. Stattdessen merkte er, wie sich seine Hand dem Gemälde näherte. Natürlich war es verboten, die Werke zu berühren und doch konnte er nichts dagegen machen. Er sah, wie seine Finger die Bildoberfläche berührten und dann… stand er nicht mehr im Dunkeln, sondern in einer grellen, rötlichen Welt. Es war auch nicht mehr ruhig, sondern es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm und er merkte, wie er sich die Ohren zuhielt. Doch was er sah, raubte ihm fast den Verstand, denn er schaute nicht mehr auf das Gemälde. Stattdessen sah er… SICH. Durch eine Art Rahmen im Dunkel des Museums. Wie ER SICH betrachtete, SEINE Arme bewegte, so als ob ER das schon eine Ewigkeit nicht mehr getan hätte. Wie ER das Gemälde betrachtete, lächelte und sagte: „Danke. Ich werde mich um deinen Sohn kümmern, das verspreche ich.“ Er wollte auf sein anderes ICH losstürmen, IHN aufhalten, doch er war wie erstarrt und konnte sich nicht bewegen. Und dann sah er, wie ER SICH umdrehte und langsamen Schrittes davonging.

© Benedikt Hofner 2023-08-28

Genres
Romane & Erzählungen