von Nadine Ahlfeld
Ich stehe am Bahnsteig Nummer drei, so wie jeden Tag. Sechs Uhr morgens, viele Pendler hier, ein paar Schüler. Und dazwischen ich. Verloren im Leben, dabei wäre eine Veränderung nur einen Sprung weit entfernt.
Der Job hatte mich nie erfüllt. „Mach doch erstmal etwas Ordentliches. Für das, was dir Spaß macht, da hast du später doch noch Zeit. Im Leben geht es nicht ums Spaßhaben. Wir haben auch kein Spaß, aber verdienen Geld. Damit kann man ganz gut leben.“ Danke Mama. Im Büro an die grauen Wände starren, die Fenster längst nicht mehr geputzt und mein Chef spricht mich jeden Tag an, ob ich mit ihm nicht mal etwas intensiver arbeiten möchte. Die Veränderung ist naheliegend, einen Sprung weit entfernt, aber trotzdem fahre ich täglich noch zu der Arbeit, warte hier am Bahnsteig Nummer drei.
Die Wohnung, die für diesen Stadtteil von Hamburg überteuert ist, auch nur ein Zimmer hat. Kein Zuhause. Ein Ort zum Schlafen und Verweilen, aber niemals ein Zuhause. Warum nicht wieder in die Heimat ziehen, zu den Eltern? Weil sie es doch immer besser wussten. „Du wist unser kleines Dorf hier früher oder später vermissen. So war es bei uns doch auch. Niemals hältst du es lange in dieser Stadt aus.“ Danke Mama. Zwischen den Unterlagen laufen, gegen die Möbel, die dort nie Platz gefunden hatten und auf die grauen Wände der nebenstehenden Gebäude gucken. Mein Vermieter, der mich schon längst herausschmeißen wollte, oder ich könnte mit ihm ja mal intensiver über das Problem reden. Die Veränderung ist naheliegend, einen Sprung weit entfernt, aber trotzdem bleibe ich dort wohnen und muss täglich an der naheliegenden Bahnstation Nummer drei auf meinen Zug warten.
Die Freunde, die eigentlich nie wirkliche Freunde waren. Beziehungen zum Zweck. Für den Umzug, falls man wo hin wollte, für das Kümmern für die Haustiere. Beziehungen zum Zweck, nichts Besonderes. „Deine Freunde solltest du wertschätzen. Dass sie mit dir befreundet sind, ist nicht mal eben so zu sagen. Du solltest sie wertschätzen Kind.“ Danke Mama. Freunde, die mich ignorieren, denen es egal ist, wie es mit geht und wie verloren ich im Leben bin. Zum Zweck, benutzt von meinem “besten Freund“. „Lass uns treffen, mal intensiver über das neue Leben in Hamburg reden.“ Ich hätte es wissen müssen, den schlechten Ruf hatte er sowieso. Die Veränderung ist naheliegend, einen Sprung weit entfernt, aber trotzdem stehe er ein Gleis weiter und ich hier an Station Nummer drei.
Mein Zug kommt. Weiter so leben wie bisher, oder die Initiative endlich mal ergreifen? Nicht mehr an diesem Gleis stehen, nicht mehr gegen die überflüssigen Möbel laufen, gegen die grauen Bürowände gucken, den Mistkerl an Gleis vier sehen? Einen Sprung weit entfernt, naheliegend. Der Zug fährt ein.
„Meine Damen und Herren, wir bitten um Verständnis, dass der Zug 254 vom Gleis Nummer drei heute nicht fahren wird, da eine junge Dame dort vor den Zug gesprungen war und verstarb. Das Leben zu viel, die Veränderung einen Sprung weit entfernt.“
© Nadine Ahlfeld 2021-05-16