Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, wie es ist, plötzlich wieder sichtbar zu sein. Doch heute, als ich mit Noah den Schulflur durchlief, fühlte ich mich seltsam beobachtet. Immer wieder hörte ich Andere flüstern wie ,,Wer ist denn das?“ oder ,,Was macht der neben ihr?“. Zwischen Noah und mir hatte sich eine unangenehme Stille nach dem Betreten der Schule gebildet. Wahrscheinlich fühlte er sich genauso wie ich mich gerade. Wir wären wahrscheinlich immer weiter geradeaus gelaufen, wäre da nicht die Stimme gewesen, die ich nur zu ungern hörte. Es war natürlich die Stimme von Luisa, die größte Diva und Dramaqueen unserer Klasse und kleine Schwester von Tessa, die ein Jahr älter, das beliebteste – und auch gemeinste – Mädchen der Schule und Leos Freundin war. Doch manchmal konnte Luisa den gleichen Schaden wie Tessa anrichten, da sie mich besser kannte, weil wir in derselben Klasse waren.
,,Na, wen haben wir denn da? Der Bücherfreak und ein gutaussehender Junge. Irgendwie verstehe ich die Verbindung nicht.“ Noah drehte sich zu ihr um, bevor ich ihn stoppen konnte, und somit drehte ich mich auch um. Luisa kam langsam auf uns zu, wandte sich dann aber voll und ganz Noah zu. ,,Weißt du, dass du viel zu gutaussehend bist, um mit einer Außenseiterin wie ihr abzuhängen? Du könntest beliebter sein als alle anderen Jungs an dieser Schule. Dafür müsstest du nur von ihr ablassen! Und sehe sie doch nur an, ihr Klamottenstil ist abscheulich!“
Ich wollte mich grade umdrehen und davongehen, damit ich vor ihm nicht noch mehr gedemütigt wurde, doch Noah ergriff rasch meine Hand und hielt mich auf. Dann wandte er sich wieder Luisa zu, die das Schauspiel misstrauisch beäugt hatte. ,,Weißt du, dass mich das Aussehen anderer nicht interessiert und ich mich eher auf die innerlichen Werte fokussiere? Außerdem kann man nicht behaupten, dass sie hässlich ist, nur weil sie keine Schminke im Gesicht und keine Designerklamotten trägt. Wie sagt man so schön? Weniger ist mehr!“
In diesem Moment fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben richtig sicher und gleichzeitig sichtbar, denn alle sahen zu dem Geschehen hinüber und musterten mich und Noah, dann wieder Luisa und immer so weiter. Luisa lachte peinlich berührt, sah unsere Zuschauer an und blickte dann wieder zu uns. ,,Schön! Wenn ihr meint, dass das so ist, gebe ich mich halt geschlagen. Aber glaub mir, nur weil du sie jetzt magst, heißt das nicht, dass das für immer so ist!“
Wahrscheinlich hätte sie noch mehr gesagt, aber Noah ging schon los und zog mich hinter sich her. Es dauerte nicht lange, bis er plötzlich laut lachen musste, und ich lachte mit, damit die Anspannung endlich verflog. Schließlich fragte ich ihn: ,,In welchen Raum musst du eigentlich?“ Er schaute auf seine Schulunterlagen. ,,216… Kann das sein? Es gibt doch bestimmt keine 200 Räume hier, oder?“ Ich lachte nur und deutete dann nach oben. ,,Komm wir müssen in den zweiten Stock.“ Wir gingen die Treppen hinauf und als wir dann vor seinem Raum ankamen und er gerade hineingehen wollte, drehte er sich noch kurz um und fragte: ,,Sehen wir uns in der Pause?“ Ich nickte nur als Antwort.
© Chiara Marie Silvestro 2024-01-08