Ich, O. Tannenbaum

Maria Büchler

von Maria Büchler

Story

Jetzt will mal ich zu Worte kommen, ich, Otto Tannenbaum. Höchste Zeit, dass ihr Menschen meine Sicht auf den althergebrachten Brauch kennenlernt.

Schön, dass ihr so viel Freude mit mir habt! Besonders den Kindern gönne ich, dass mein geschmückter Anblick sie glücklich macht, alle Jahre wieder. Aber habt ihr euch schon einmal gefragt, wie ich mich dabei fühle?

Was habe ich davon, wenn ich in Dur und Moll besungen werde! Ich wachse im Wald oder auf der Plantage friedlich vor mich hin und freue mich, dass ich kein Jungspund mehr bin. Denn als solcher bin ich dem Wildverbiss hilflos ausgeliefert, sofern die Menschen mich nicht davor schützen. Grad im Spätwinter fürchte ich die schmerzhaften Zähne des Wildes. Die können sogar mein Tod sein.

Ihr habt ein Sprichwort: Quäle nie ein Tier zum Scherz… Wisst ihr, dass auch wir Pflanzen Schmerz empfinden können?

Kaum haben wir die nötige Größe erreicht, kommen die Männer mit der Motorsäge. Allein das Geräusch fährt mir buchstäblich durch Mark und Bein. Dagegen sind Hirschzähne ein Klacks.

Schon Wochen vor dem Fest werde ich oberhalb meiner Füße gekappt und gefesselt. Das Netz, in das sie mich einpacken, schnürt mir die Luft ab. Meine Haut – und was sind die Nadeln anderes als meine Haut? – muss ich zu Markte tragen und werde feilgeboten. Wobei die Händler an mir profitieren. Diese …!

Und dann singen die Menschen noch, wie treu sind deine Blätter. Was für ein Hohn! Wie lange denkt ihr, bleiben sie mir dank eures Einflusses treu?

Eine durchschnittliche Fichte von zwei Metern Höhe hat etwa 400 000 Nadeln. Zu Silvester liegen erwiesenermaßen 300 000 davon am Boden. Die Hausfrau ärgert sich. Die Kinder haben die Freude am Christbaum längst verloren. Sie dürfen weder Kerzen noch ihre Wundervarianten anzünden, weil dürre Äste so leicht Feuer fangen.

Abgeratzt und gedemütigt ragen meine Zweige in den Raum. Die Schokofiguren sind längst abgeerntet, die Kerzenhalter rutschen zur Seite. Lametta und Girlanden klammern sich tapfer aneinander. In Würde altern? Vergiss es!

Das Allerschlimmste kommt erst noch. Zum Skelett abgemagert, nur mehr ein pieksendes Monster, werden wir mit dem Gesicht nach unten quer durch die Wohnung und durchs Treppenhaus geschleift. Ein weiterer Aufschrei der Hausfrau. Irgendwo bei den Müllcontainern liegen wir dann herum und warten auf die Grünabfuhr. Von den Hunden angepinkelt, wandern wir armen Geschöpfe zu schlechter Letzt durch den Häcksler.

Gar so viele Koniferenleichen müssen doch nicht sein! Inzwischen gibt es einen Baumverleih: Die Christbäume bleiben im Topf und dürfen hinterher wieder in die Erde. Naturgemäß ist das leider nur bei kleineren Tannen möglich. Und wer will schon etwas Kleines, wenn es auch grösser geht? Also werden die allermeisten von uns gekillt. Wegen einer einzigen Woche in der guten Stube müssen wir dran glauben.

Drum Freunde, hört mich an: Geht sorgsam mit uns Tannenbäumen um, verschwendet uns nicht! Bitte!

Frohe Weihnacht, euer Otto

© Maria Büchler 2020-12-19