Introvertiert in der Corona-Zeit

Julia Ranevski

von Julia Ranevski

Story

Man könnte meinen Introvertierte haben es nicht ganz so schwer in dieser ganz speziellen Zeit als Extrovertierte. Immerhin sind sie eh öfters zu Hause, als draußen. Fühlen sich dort am sichersten und am wohlsten. Aber selbst an mir ist Corona nicht vorbeigegangen und hat definitiv seine Spuren hinterlassen.

Ich merke das bereits morgens auf dem Weg zur Arbeit. Der Bus ist überfüllt und dann würde ich am liebsten jeden einzelnen dieser Leute fragen: MUSST du denn unbedingt JETZT raus? Ist es so dringend, dass es sich nicht vermeiden oder verschieben lässt?

Wenn jemand auf der Straße vor mir läuft, wenn’s hochkommt sogar ohne Mindestabstand, dann stört mich das noch mehr als vor Corona. Ich hasse es geradezu. Und wenn Derjenige hinter mir läuft, dann fühle ich mich verfolgt.

Ich arbeite in der Optik. Auf der Arbeit merke ich es weniger, reagiere aber zu manchen Zeiten gestresster und gereizter. Die Aussage von Kunden: „Ich bin ja schon geimpft“ regt mich am meisten auf. Und dann hast du einen Freifahrtschein die Maske vor mir nicht tragen zu müssen, oder wie?, denke ich mir dann.

„Aber Sie können das Virus trotzdem übertragen“, meinte ich die Tage zu einem Kunden. Für seine Antwort hätte ich ihm gern eine Ohrfeige verpasst: „Ach, das wusste ich nicht.“ Augenverdrehen hoch zehn.

Auch stellt sich mir die Frage: Warum muss man zu Viert in unsere Räume rein, wenn nur EINE Person die Brille abholt? Und dann sind sie gleich beleidigt, wenn man den Begleitpersonen vorschlägt draußen zu warten. „Leute, wir haben Corona. Schon vergessen?“, würde ich am liebsten ausrufen. Werde ich natürlich nicht machen, weil ich ja alles in mich hineinfresse. Typisch introvertiert halt. Aber um ehrlich zu sein, ist meine Geduld am Ende und meine Nerven liegen so blank, dass ich es am liebsten in die Tat umsetzen würde.

Morgens ist mir die liebste Zeit, wenn nur wenige Leute unterwegs sind und die Stille einen umhüllt. Doch sobald der Umgebungslärm auf mich einprasselt und meine Musik übertönt, ist es mit meiner Laune dahin. Auch in unserem Laden ist Lärm zum Problem geworden. In diesen Situationen hasse ich es hochsensibel zu sein.

Große Menschenmassen verursachen mittlerweile ein mulmiges Gefühl in mir. Manchmal würde ich es sogar als Angst benennen. Daher meide Menschenaufläufe, was vor Corona nicht so extrem war. Vieles scheint zu intensiv, meine Rezeptoren können das gar nicht verarbeiten. Sozialer Kontakt ist für uns Introvertierte ebenfalls wichtig, aber auch den muss ich, und das tue ich auch freiwillig, auf das Minimum beschränken.

Ja, ja, Corona hat alles verändert.

© Julia Ranevski 2021-08-17

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