Die Seitenränder der Zeitung beugen sich in scharfen Knicken dem zunehmenden Druck meiner sie haltenden und sich dabei immer mehr zur Faust formenden Hände.
Ich lese tatsächlich:
“…ich meine die Typen, die dem Vegetarismus frönen, oder dem Veganismus und sich damit als verbitterte Spaßbremsen outen…“
Unfähig, diese Worte nicht wieder und wieder zu lesen, braut sich in mir grade ein Sturm zusammen.
Schubladen! Wohin man sieht, was immer man liest!
Schubladen, Klischees, Abwertungen.
Kaum zu glauben, aber ich bin es jetzt seit 30 Jahren satt! Wirklich satt!
Ja, das geht!
Vegetarier in den 80 ern zu sein, bedeutete, als „Müsli“ abgestempelt zu werden! Als “Räucherstäbchen-Huldiger”, “Esoterik-Kosmonaut”. Man war natürlich ein “Bäume-Umarmer”, ein “Atomkraft-Nein-Danke-Anhänger”, galt als “Realitätsflüchtling” und “no-future-depressiv”!
In den 90ern hieß es: “Fitness-Guru”, “Aerobik-Hüpf-Häschen”, “Nouvelle-Cuisine-Elite mit drei Erbsen auf dem Goldrandteller”, “Körnerfresser”, “Tschernobyl-Verstrahlte”, “Reformhaus-Junkie”!
Mit dem Millennium wurden diese Ernährungsformen dem elitär-denkenden Bildungsbürgertum zugeschrieben, man war bestimmt so ein “Dosenpfand-Anhänger”, gehörte mindestens zu den neoliberalen Besserverdienern, den “Waldorf-Eltern” , den “Globuli-Gläubigen” und “Allergie-Erfindern”.
Und heute wird es keinen Deut besser. „Verbitterte Spaßbremsen!“
Kann man Menschen nicht einfach essen lassen, was sich für sie als die bekömmlichste und leckerste Ernährungsweise heraus gestellt hat, ohne gleich einer geistigen Haltung, einer demographischen Kategorie, einer Weltanschauung zugeordnet werden?
Es ist doch nicht jeder, der mal Fleisch oder gern Fisch isst, ein Massentiermörder, ein ungebildeter Ignorant und ein hirnvernagelter und von der Lobby manipulierter Dummbatz-Konsument!
Und ebensowenig ist jeder Vegetarier oder Veganer gleich ein “halbverhungerter, von Dogmen zerfressener Oberlehrer” oder gar eine “verbitterte Spaßbremse”!
Können wir mal wieder in einem Diskurs mit dem Thema Welternährung umgehen, bitte?
Massentierhaltung , Billigfleisch sind ein umweltpolitisches, ein wirtschaftliches Thema und sicherlich ein Verbrechen. Das ist Glyphosat auch. Und Bodenerosion. Und Saatgut. Und aus Guadeloupe eingeflogene Früchte.
Müssen diese gegenseitigen Beschimpfungen und Ausgrenzungen sein? Sollte nicht jede „Seite“, wenn es überhaupt welche geben muss, sich per Wahl darum kümmern?
Indem man wählt, wer regiert,
wählt, wo man einkauft,
wählt, was man sich in den Mund schiebt?
Und dann bitte auch mal die Worte wählen, mit denen man umgeht!
Das gilt für Veganer UND Fleischesser!
Was kommt als nächstes?
Dass sich Bücher- und E-Book-Leser gegenseitig beschimpfen?
Iss. Und mach den Mund nur auf für Argumente!
Urteile, aber hör auf, zu VER-urteilen.
Hier bremse ich den Spaß!
In der Tat!
Mann, bin ich sauer!
© Cornelia Morhardt 2020-06-16