Jonathans verlorene Seele

Lotte Maria Kaml

von Lotte Maria Kaml

Story

Der Wipfel des alten Baumes schwankte im Wind. Zwischen seinen Ästen, gut versteckt, befand sich das „Büro“. Es bestand aus morschen, verwitterten Brettern, notdürftig zusammengehalten von ein paar biegsamen Zweigen. Mittendrin stand der Schreibtisch, der vor vielen Jahren eine bunt bemalte Obstkiste war. Der verblasste Schriftzug „Aranciata di Sole“ war gerade noch lesbar. Als Stuhl diente ein alter, wackeliger Schemel. Hier lebte Jonathan. „Leben“ ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck. Jonathan war kein Mensch mehr, sein Körper ruhte bereits am Friedhof. Aber seine Seele konnte er nicht loslassen, sie hatte noch etwas zu erledigen.

84 Jahre hatte er nun auf dieser Erde verbracht. Als vor drei Jahren seine geliebte Frau verstarb, er sich auf ein Leben ohne sie einstellen musste, kämpfte er mit Einsamkeit und Verzweiflung. Sein Sohn kaufte ihm einen Laptop, buchte einen Computerkurs für ihn. Gut für die grauen Zellen und gegen Langeweile, wie er meinte. Und Jonathan entdeckte die Faszination des Internets. Tag für Tag saß er bis tief in die Nacht am PC, schrieb Tagebuch und surfte. Eines Tages stieß er auf eine Esoterik-Seite. Die Gemeinschaft vertrat die Überzeugung, jeder Mensch könne, wenn er wolle, ewig leben. Alles nur eine Frage der Energie, aus der alles und jeder besteht. Man müsse sie nur freisetzen, es zulassen. Sich frei machen von allem, vor allem von den materiellen Dingen, diesem Ballast auf dem Weg zum wahren ICH. Der „Meister“ kannte den Weg dahin, bestätigte das mit Zertifikaten von namhaften Wissenschaftlern aus Amerika. Körper, die nicht verwesten, entdeckt in Peru, Asien und Afrika. Jonathan erschien das vollkommen logisch. Allein der „Fluch des Pharaos“, wenn Menschen, welche die Grabesruhe der Könige störten, auf unerklärliche Weise verstarben! Die Seele dieser Verstorbenen war noch da, keine Frage. Eine Sehnsucht begann in ihm zu brennen. Er wollte nicht sterben, unerwartet, verschwinden für immer, wie seine Frau.

Schließlich wurde er Mitglied der Gemeinschaft, die von nun an sein Leben bestimmte. Von seinem Umfeld bekam er nur noch wenig mit. Er verwahrloste zusehends, überwies sein gesamtes Geld auf ein Konto in Panama. Nicht einmal, als sein Sohn ihn in ein Pflegeheim brachte, kam er zu Verstand. Sein einziger Besitz war nun der Laptop, den er nicht aus der Hand gab. Eines Tages war es so weit. Sein altes Herz war müde geworden. So müde, dass es aufhörte zu schlagen. In einer Vollmondnacht. Die Gardinen bauschten sich im Wind, dunkle Schatten wanderten durch das Zimmer. Jonathan hörte die Stimme seines „Meisters“: „Bring mir 15 Seelen, die nicht wählen konnten zwischen Tod und Ewigkeit. Finde sie für mich! Ich kümmere mich um ihre Nachkommen, bewahre sie vor dem Verschwinden. Schenk mir ihr Schicksal und du wirst unsterblich sein!“

Hoch oben im Wipfel des alten Baumes, mitten im Wald, auf der alten Obstkiste stand ein altersschwacher Laptop. In seinem Inneren verbargen sich Aufzeichnungen. Von ungewöhnlichen, unerwarteten Sterbefällen aus Jonathans Heimatdorf. Und seine Seele machte sich auf die Suche.

© Lotte Maria Kaml 2024-01-04

Genres
Science Fiction & Fantasy