Kapitel 3: „T“

Alexander Mersich

von Alexander Mersich

Story

In dieser Liste gibt es nicht nur negative Geschichten/Trennungen. Dein Kapitel ist der Beweis dafür. Denn du bist einer der Gründe, warum ich zu dem Mann geworden bin, der gerade an seinem Schreibtisch sitzt und über all das hier schreibt. Ich hatte schon immer eine andere Denkweise, als die meisten Männer in meiner Familie. Deswegen kam ich mir öfter ziemlich dumm vor. Als jüngster in meiner Familie war meine Meinung so viel wert, wie die eines Kleinkindes. Ich war immer das Kind, auf das man aufpassen musste. Selbst in der Schule war ich für meine Lehrerin weniger wert gewesen als die anderen. Dümmer als sie sozusagen. Deshalb kam ich auch in diese Schule, wo ich dich kennenlernen durfte. Erst durch dich konnte ich lernen, dass ich nicht dumm und wertlos war. Du hast dieses Talent in mir gesehen, welches ich jetzt gerade ausübe. Du warst mein erstes richtiges Vorbild und ich wollte alles dafür tun, um dich nicht zu enttäuschen. Deine Art, wie du durch die Klassen geschritten bist und alle zum Lachen brachtest, hat mich vollkommen fasziniert. Du machtest einen oftmals sehr gehassten Ort, zu etwas Ertragbarem. Deine Witze und wie du mit allen umgegangen bist, machte dich einfach aus und brachte mich dazu, genauso zu werden. Selbst wenn du einmal ausgerastet bist, war das nach fünf Minuten wieder vergessen. Leider waren zu meiner Zeit solche Leute, in derselben Position wie du, eine Seltenheit. Ich kann es ihnen in dieser Art von Schule aber auch nicht verdenken. Du warst einer der ersten Menschen in meinem Leben, die mich der Kunst des Schreibens ein Stück näher brachte. Durch dich fand ich auch mein Lieblingsfach heraus und das brachte in mir den Wunsch hervor, genauso kreativ und mutig zu werden wie du. Drei Jahre lang hattest du mich auf meinem Weg begleitet und mir gezeigt, was es heißt, seine Träume niemals aufzugeben. Dann warst du auf einmal weg, um deine eigenen Ziele zu verfolgen. Auch wenn ich mich für dich freute, wollte ich nicht, dass du die Schule verlässt. Denn ohne dich war dieser Ort weniger erträglich geworden. Du kamst erst wieder, nachdem ich gegangen war. Hattest mich zu den Vorstellungen deines Traumberufes eingeladen, welche nach zwei Jahren leider eingestellt wurden. Bis heute habe ich es nicht gewagt, dich zu treffen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob du noch in der gleichen Schule bist. Auch wenn es ziemlich egoistisch klingt, habe ich dich nie besucht, weil ich Angst hatte, eine Person vorzufinden, deren Träume vollkommen zerstört wurden. Jemanden zu sehen, dessen Freude am Beruf beinahe ganz verschwunden war. Vor allem aber, habe ich Angst, dass einer meiner größten Fans und Bewunderer sieht, dass ich bis jetzt nicht wirklich etwas erreicht habe. Ich wollte nicht sehen, wie mein erstes richtiges Vorbild von mir enttäuscht ist. Habe es mir schon so oft vorgenommen und jedes Mal eine neue Ausrede gefunden, um dich nicht zu besuchen. Das alles schon ein Jahrzehnt lang. Ob ich mich selbst dafür hasse? Ja, und dennoch glaube ich nicht, dass ich es anders machen würde, wenn ich noch einmal die Chance gehabt hätte. In der Hinsicht bin ich ein Feigling. Denn jede Person meiner Vergangenheit erinnert mich an den Schwächling, der ich damals war. Ich habe mich oft gefragt, ob du mich wiedererkennen würdest, wenn ich bei dir auftauche und dich begrüßen würde. Würdest du anfangen zu lächeln und den Jungen von früher sehen, oder eine dir fremde Person, welche du einfach nur höflich zurückgrüßt?

© Alexander Mersich 2023-10-08

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Reflektierend