Leni

Jolina Himmel

von Jolina Himmel

Story

Die Schule rückte immer näher und gestärkt hatte ich mich nicht wirklich. Jetzt konnte ich nur noch dran denken, hoffentlich bald in die Klinik aufgenommen zu werden. Am Morgen, wie auch jeder andere, fühlte ich in mir eine schwere unsichtbare Last und mein Herz machte tausende Purzelbäume. Der Weg zur Schule war wie ein Marathon für mich. Und als wäre das nicht schon genug, hatte ich vor der Schule das Gefühl, dass mich Millionen Augen anstarrten. Diese Augen, diese Menschenenge, das versetzte mich in eine Schockstarre. Ich stand einfach da. Ich konnte mich nicht bewegen. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder nach Hause gegangen, aber ich wollte keinen enttäuschen und bis ans Ende durchkämpfen. All diese Menschen starrten mich an, als wüssten sie etwas von mir. Manche lachten, tuschelten leise oder starrten mich einfach nur an. Es machte mich wahnsinnig. Also beschloss ich, meine Augen für einen kurzen Moment zu schließen, durchzuatmen und hineinzugehen.
Leise sagte ich zu mir:
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.
Ich schaffe das.

Meine Welt fühlte sich wie Schwarz und Weiß an. Nichts machte mehr Sinn, nichts war mir mehr wichtig. Selbst meine Freundin war so nachdenklich und konnte es nicht verstehen, was mit mir los war. Sie umarmte mich und ließ mich nicht mehr los. Sie sagte, wie sehr sie mich vermisst hatte und wie sehr ich ihr wichtig war.
Dabei konnte ich nichts fühlen.
Rein gar nichts.
Ich war wirklich froh, sie als Freundin zu haben, aber wie sollte das funktionieren, wenn ich ein Mensch ohne Gefühle war? Sie hatte es nicht verdient, so von mir behandelt zu werden. Also erzählte ich ihr, wie ich mich fühlte. Leni war davon so berührt, dass sie eine Träne vergaß. Sie sagte, dass es ihr leidtat, was sie vorhin zu mir sagte und sie für mich da wäre, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Außerdem riet sie, dass mir eine Klinik bestimmt guttun würde und es ganz normal wäre, auch mal Hilfe zu brauchen.

Ich nahm es ihr definitiv nicht übel. Wie sollte sie es auch wissen, wenn ich ihr das die ganze Zeit verschwiegen hatte? Ich war so eine schlechte Freundin. Hoffentlich konnte ich es irgendwann wiedergutmachen, doch jetzt ging gar nichts mehr. Ich konnte noch froh sein, zu leben.
Nach den letzten zwei Stunden ging ich nach Hause. Anwesend war ich aber nicht, sondern die ganze Zeit mit meinen Gedanken abgelenkt. Zu Hause kämpfte ich den ganzen Tag mit meinen Hausaufgaben. Ich hatte einfach keine Kraft dafür, aufzustehen. Lehrer verstanden so etwas leider nicht. Ich vergaß etliche Tränen und haute wütend auf den Tisch, weil meine Gedanken mich nicht in Ruhe ließen. Ich hatte mich schon längst nicht mehr unter Kontrolle, sondern meine Gedanken hatten mich unter Kontrolle. Ich wusste nicht mehr, wie lange ich das durchhalten sollte. Meine Gedanken sagten mir, dass ich sterben soll. Ich kämpfte dagegen, aber lange würde ich es nicht mehr schaffen. Ich konnte nicht mehr.

© Jolina Himmel 2025-07-07

Genres
Romane & Erzählungen