Nur ein Punkt

So_Yellow_

von So_Yellow_

Story

Wenn ich in den Spiegel schaue: Wer bin ich, was bin ich? Nur ein Punkt im Universum. Ein winzig kleiner Punkt mit einer Flamme im Herzen. Irgendwann vergessen. Wie die unbekannte Tote auf dem Friedhof, der ich Blumen ans Grab bringe.

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich braunes Haar und blaugraue Augen und feine Falten. Ich sehe alles, was ich sein könnte und doch nicht bin. Das, was ich sehe, sieht nie ein anderer Mensch. Niemals. Ich sehe mich spiegelverkehrt.

Ich sehe spiegelverkehrte Bad-Hair-Days und spiegelverkehrten Staub auf den Wimpern. Den blauen Fleck am Knie vom letzten Stolpern. Ich sehe Hoffnung im Blick und erste graue Haare.

Ich bin nichts. Ich bin unbedeutend im Zeitstrahl der Geschichte und bin mir meiner Endlichkeit bewusst. Jeden Tag. Ich bin spiegelverkehrt und nur ich sehe mich so.

Wenn ich böse und fröhliche Blicke übe, bin ich allein. Wenn ich die Augen unnatürlich aufsperre für die tägliche Wimperntusche, gibt es keine Zeugen. Ich bin eine Nichtigkeit. Wie die meisten. Verschwinde in Zeit und Raum und bin eine Nummer bei Behörden.

Wenn ich mich im Spiegel sehe, werde ich daran erinnert, nicht reich zu sein.

Wenn ich in den Spiegel sehe, werde ich daran erinnert, die reichste Frau der Welt zu sein.

Ich sehe Liebe und Glück und blaugraue Augen. Ich sehe einen Punkt. Im Universum. Ein kleines Leuchtfeuer. Für drei Sekunden bin ich auf der Welt. Mehr Zeit hat ein Menschenleben im Angesicht des Universums nicht. Dann verglühe ich.

Jetzt bin ich da. Heute und morgen und drei Tage. Im Spiegel und in echt.

Ich will nicht endlich sein. Nichts verpassen von den Wundern und Gefühlen dieser Welt. Will mit offenem Herzen und Augen alles aufsaugen und sehen und fühlen und geben, was ich kann. Doch: ich bin nur ein Punkt. Mit einer Flamme. Wie jeder von uns. Im Angesicht des Universums.

Bild: Greg Rakozy – unsplash

© So_Yellow_ 2020-05-13