von Corinna Saal
Ich konnte nicht fassen, dass das wirklich funktionierte. Auf den Händen des Tänzers schwebte ich in „Dirty Dancing“-Manier durch den Raum. Ich hatte ihm nicht glauben wollen, als er gesagt hatte: „Na klar kannst du das. Die Schwebefigur ist ganz easy nachzumachen. Du musst nur deinen ganzen Körper anspannen. Den Rest mache ich.“ Und bevor ich etwas hatte erwidern können, hatte er mich mitten in dem Club in die Lüfte gehoben. Ich hatte nicht mal Anlauf nehmen müssen. Jetzt schwebte ich über der Menge und konnte nicht glauben, dass es so leicht war. Wie häufig ich versucht hatte, die Hebefigur mit meinen Freundinnen im Schwimmbad nachzuspielen. Ich hatte nur erwachsen werden müssen, um durch die Lüfte zu schweben.
Ich genoss diesen Abend mit dem Tänzer, der auch beim Feiern beim Wasser trinken blieb. Auch nachdem ich ihm gesteckt hatte, dass ich einen Freund hatte, blieb er aufmerksam und flirtete mit mir, wobei er darauf bedacht war, keine Grenze zu überschreiten. So wie ich auch. Doch im Gegenteil zu ihm hatte ich dem Alkohol zugesagt. Und das ordentlich, wie ich in den frühen Morgenstunden feststellte. In der leicht kühlen Spätsommernacht fanden wir uns um halb vier in der Früh auf der Straße wieder, um uns voneinander zu verabschieden. Ich wollte nicht zu mir alleine nach Hause, wollte ihn nicht verlassen. Leicht schwankend stand ich vor ihm. Ich konnte mich nur auf seine Lippen konzentrieren, doch er stand entnervend nüchtern vor mir und sagte jetzt: „Sicher, dass du alleine nach Hause willst?“
Raus aus meinen Gedanken!
„Ich meine, du scheinst einiges über den Durst getrunken zu haben und mir wäre wohler dabei, wenn du mit zu mir ins Hotel kommen würdest. Ich habe da zwei Betten, wir müssten uns also nicht mal ein Bett teilen. Das ist jetzt keine lahme Anmache. Ich habe verstanden, dass du einen Freund hast.“
Oh, stimmt. Da war ja was!
Die Seifenblase war geplatzt. Jetzt musste ich an meinen Freund denken. Und außerdem war es nicht okay, dass der Typ, der mir gegenüberstand, vollkommen nüchtern war. Noch vor einer Sekunde hatte ich ihn in meinem Inneren angefleht, mich endlich zu küssen. Wäre auch er betrunken gewesen, hätte ich es vielleicht sogar initiiert. Aber der Gedanke, dass er komplett nüchtern war, hielt mich davon ab. Mit Sicherheit würde er mir sagen, sollte ich versuchen, ihn zu küssen: „Aber dein Freund, willst du das wirklich tun?“ Und dann hätte ich mich noch schlechter fühlen müssen, als ich es ohnehin schon tat, wo dieses Prachtexemplar von einem Mann vor mir stand und so schön schief lächelte. Doch wie immer in solch einer Situation ging die Vernunft – oder auch die patriarchale Stimme der Gesellschaft – als Siegerin aus dem Kampf mit meinen Emotionen hervor. Und so sagte ich nur: „Keine Sorge, ich bin eine erwachsene Frau, ich finde schon zu mir nach Hause. Aber danke für das Angebot.“ Damit drehte ich mich um und ging davon.
Ein weiterer verpasster Moment …
© Corinna Saal 2022-08-29