Rosa Schleierkraut – Teil 5

Kai war oft auf Reisen, hatte Termine im Ausland. Lara blieb alleine in dem großen Loft. Wenn sie nach Hause kam, fühlte sie sich verloren zwischen all den coolen Design-Objekten. In solchen Momenten war sie sich nicht sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, ihre eigene Wohnung komplett aufzulösen. Von ihren Möbeln konnte sie nichts mitbringen. ≫Geh, was willst du denn mit dem alten Gerümpel?≪ meinte Kai. ≫Das passt doch wirklich nicht zu meinen Möbeln.≪ Dennoch vermisste sie ihre Teile, die sie so lange begleitet hatten. Freundinnen hatte Lara nicht viele. Carla war ihre beste Freundin. Ab und zu trafen sie sich, aber Carla war frisch verliebt und verbrachte die Zeit lieber mit dem Neuen.

Immer wenn Kai verreiste, brachte er ihr zum Abschied einen Strauß mit rosa Schleierkraut. Keine anderen Blumen. Nur rosa Schleierkraut. ≫So zart wie du≪, sagte er. Manchmal waren es viele solcher Sträuße. Das zarte Rosa passte perfekt zu den vielen grauen Möbeln und den Glaselementen im Loft.

Kai war wieder für eine Woche nach Brasilien geflogen, um an einem Kundentreffen teilzunehmen. Lara kam aus der Schule, saß eine Stunde bei Sonnenuntergang auf der Terrasse. Sie hatte sich Rotwein eingeschenkt und schaute über die Stadt. Als es kühler wurde, wanderte sie mit dem Glas in der Hand durch die Wohnung. ≫Als ob er gar nicht hier wohnen würde≪. Dieser Gedanke war ihr nicht neu. Besonders, wenn sie alleine zu Hause war. Er war immer so perfekt, immer gestylt, immer das beste, teuerste Rasierwasser, immer aufmerksam und charmant. Sogar im Bett, wo sie eigentlich mit Leidenschaft rechnete, schien er beherrscht. ≫Dir muss es gut gehen≪, sagte er oft. Ob es ihm gut ging, konnte sie nicht sagen.

≫Was mache ich hier eigentlich?≪ dachte sie. ≫Ist das jetzt wirklich mein Leben? Will ich denn so ein perfekt-glattgebügeltes?≪

Sie ging über den cremefarbenen Teppich den Gang entlang zum Schlafzimmer. Direkt daneben lag sein Ankleideraum. Ihrer befand sich auf der gegenüberliegenden Seite. Geordnet hingen die Anzüge an der Stange. Sortiert von Hell- bis Dunkelblau, Hell- bis Dunkelgrau, Beige und Schwarz. Die Schuhe blitzblank geputzt in Reih und Glied. Die Hemden gebügelt, mit gestärktem Kragen – dafür sorgte die Putzfee. Lara öffnete den großen Schrank mit den Schubladen. Perfekt sortiert auch hier die Socken. Passend zu den Anzügen: Blau, Grau, Beige, Schwarz. Die Unterwäsche. Sportklamotten. Nur die teuersten Marken. Alles wirkte unecht. Unpersönlich. Leblos. Wer war dieser Kai? Zu perfekt, um wahr zu sein?

Es klingelte an der Wohnungstüre. Lara stellte das Weinglas auf die Kommode ≫Hoffentlich hinterlässt es keine Spuren≪, dachte sie noch und eilte zur Wohnungstüre. Durch den Spion konnte sie niemanden sehen. Sie legte den Sicherungsbügel vor und öffnete die Türe einen Spalt breit. Am Boden lag ein riesengroßer, eleganter Strauß mit Schleierkraut. Keine anderen Blumen. Rosa Schleierkraut.