Siegfrieds Erbe

Tanja Gitta Sattler

von Tanja Gitta Sattler

Story

Es war nicht der berühmte Siegfried, der mich zum Schreiben inspirierte, sondern der unbekannte. Als Kind dachte ich, mein Vater sei die Inkarnation des heldenhaften Recken aus der Nibelungensage. Blond, blauäugig, stark. Bei allem, was er in Angriff nahm, extrem perfektionistisch, dazu hilfsbereit, höflich und charmant. Ritterlich eben. Doch er jagte keine Drachen (dazu war er viel zu tierlieb), nur Foto-Motive. Ihm verdanke ich das Bestreben, besonderen Augenblicken einen Hauch von Ewigkeit verleihen zu wollen. Die Ewigkeit im Bild ist starr, nur dem fantasiebegabten Menschen erzählt sie Geschichten. Vielen verschafft sie nur einen Augenblick Genuss, wenn die Seele in der Schönheit der zweidimensionalen Fläche versinkt. Aber auch das darf sein. Papa arbeitete gerne mit Rahmen . Zarte Zweige oder Blüten, welche das Motiv liebevoll und unaufdringlich umranken, ebenso eigneten sich Fenster oder Tore unzähliger Ritterburgen. Natur, Schlösser und Burgen, waren Siegfrieds große Freude – wie konnte es anders sein? Nomen et Omen.

Klein-Tanja fragte ständig: “Erzählst du mir eine Geschichte?” Aus dem Stehgreif konnte er die tollsten Abenteuer erfinden. Wir flogen zu den Sternen, ritten auf Kometen durch die Unendlichkeit und tranken zuckersüße Sonnenlimonade. Im Winter rannten wir über kunterbunte Blumenwiesen, spielten Federball, machten Picknick und suchten nach Alice Wunderhasen. Einmal, im Urlaub in den Bergen Österreichs, spielten wir das Intro aus der Heidi-Zeichentrick-Serie nach. Wir rannten über sattgrüne Hänge an hohen, dunkeln Tannen vorbei, schaukelten auf einer selbst gebastelten Riesenschaukel, sangen den Titelsong und tanzten Ringelreihen. Sogar die Szene mit der Ziege bekamen wir hin. Habe mich halb totgelacht wie Papa auf allen Vieren, laut meckernd, hinter mir her trabte. Auch andere Kinder amüsierten sich köstlich bei diesem Anblick. Irgendwo lagert ein Film davon, den wir vertonen wollten. Leider haben wir es nie getan und jetzt ist mein Vater tot. Er konnte mir schon lange keine Geschichten mehr erzählen, denn die Demenz hatte alle aufgefressen, die alten und die neuen. Gierig und gnadenlos.

Am 2. Weihnachtsfeiertag durften Mama und ich ihn endlich wieder besuchen, nach drei bitteren Wochen Seniorenheim-Quarantäne. Was für eine Wiedersehens-Freude! Eine Pflegerin schoss netterweise ein Foto von uns. An diesem Tag schien er so wach und glücklich. Dann schlug das Virus zu, die nächste Isolation folgte. Am 15.1.22 kam der Anruf, wir sollen uns beeilen, wenn …

Es wurde zum schlimmste Gang meines Lebens. Sein Anblick brach mir fast das Herz. Total abgemagert, schwer atmend, milchige, blicklose Augen. Ich weiß, er hat gewartet. Der Abschied tat so weh! Nur die Hoffnung bleibt, dass unsere Stimmen ihn auf seinem Weg ins Licht begleiten durften.

In meinen Geschichten wird er weiterleben, in meinem Herzen sowieso. Danke Papa, für alles!

Die Zeichnung auf dem Foto stammt von ihm.

© Tanja Gitta Sattler 2022-05-10

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