Wie ich beinah eine Meerjungfrau wurde

Effi Mora

von Effi Mora

Story

Du wirst nicht herausfinden, wie sich etwas anfühlt, bevor du mit verbundenen Augen rein springst. Als Kind war ich oft damit beschäftigt, meine Flucht in die Unterwasserwelt zu planen. Je anstrengender die Realität war, desto ausführlicher und besessener malte ich mir die Details des täglichen Lebens in der Unterwasserwelt und deren BewohnerInnen aus. Ich war ein, nennen wir es, von der Norm abweichendes, sehr einsames Kind, und diese gedankliche Flucht hatte gute Chancen, sich zu einem vollständigen Realitätsverlust zu entwickeln, hätte ich mir nicht eines Tages doch endlich das Schwimmen beigebracht.

Der Fluss meiner Kindheit, der Ural, ist lang und tief, und an manchen verregneten Nachmittagen – schwarz und kalt. Ich tauchte ein und vergaß plötzlich wie das mit dem Schwimmen nochmal ging. Das haben sehr einsame und verhaltensauffällige Kinder manchmal – sie vergessen, wie man läuft, wie man Fahrrad fährt, wie man kaut und schluckt. Diese einfachen Tätigkeiten werden plötzlich zu einer Kaskade unüberbrückbarer Handlungen, welche einzeln keinen Sinn ergeben und deren Reihenfolge sich auch nicht unbedingt automatisch erschließt.

Von außen betrachtet, wirkt das wie unnötiges, provokatives Theater, aber es ist real. Irgendwelche Neuronen verheddern sich und der an sich sonst recht kluge Organismus braucht eine Weile, um alle Prozesse wieder in den Automatikmodus zu schmeißen. Das passiert einfach.

Dieses Beinah-Ertrinken brachte die überaus enttäuschende Wahrheit ans Licht: da unten ist nichts. Nur dunkles Wasser und das Rauschen des eigenen Blutkreislaufs. Wer weiß, hätte es länger gedauert, hätte mein Körper sich nicht doch noch in letzter Sekunde dran erinnert, wie das mit dem Schwimmen geht, wäre ich vielleicht immer tiefer und tiefer gesunken, bis schließlich ein schlammiger, langer Korridor sich gezeigt hatte, der zum festlich beleuchteten Korallensaal führte, wo sie alle schon sehnsüchtig auf mich warteten. Vielleicht warten sie sogar immer noch.

Ich kann nicht behaupten, dass die Tagträume nach diesem unglücklichen Ausflug in die Tiefe abrupt aufhörten. Das nun wirklich nicht. Schließlich bat die Realität immer noch ausreichend Situationen, die eine Flucht, welcher Art auch immer, äußerst attraktiv machten, aber es wurde etwas strukturierter. So als hätte das wilde, chaotische Wasser endlich Festland bekommen. Und das Bild – einen Rahmen. Und das Kind – einen Namen.

© Effi Mora 2024-07-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend
Hashtags