Das Mehrfamilienhaus

Vor der Haustür schleicht er entlang. Schleppend setzt er einen Fuß vor den anderen auf den sonnigen Gehweg. Schwer lastet das Gewicht seiner Einkaufstasche auf seiner Schulter – früher war alles leichter. Früher, als an der Bude an der Ecke noch Tante Änne am Tresen stand. Früher, als er noch nicht so verbraucht war – 35 Jahre unter Tage haben ihre Spuren hinterlassen. Früher, als seine Welt noch bei Duisburg begann und kurz hinter Castrop-Rauxel endete. Früher, als ihn das Glück höchstens mal beim Doppelkopf verlassen hat – bis seine Frau es ebenso tat.

Erdgeschoss, 2-Zimmer, Küche, Bad, zentral gelegen, vermietet an eine verwitwete alte Dame, die Seele des Hauses. Sie kennt jeden, weiß immer, wer hier ein und aus geht. Sie kümmert sich darum, dass der Putzplan eingehalten wird. Das junge Paar aus der 2 muss sie gelegentlich daran erinnern. Liebe Leute, aber so vergesslich. Ihre Liebe erinnert sie an ihren Erwin und sich, als sie jung waren, so jung. Da war sie schon Mutter. Ohne sie wäre der Sohn noch heute glatt verloren. Noch immer sorgt sie sich um seine Mahlzeiten, seine Wäsche, den Haushalt.

1. Etage, 2-Zimmer, Küche, Bad, zentral gelegen, lange leer stehend. Der Mieter: alleinstehend, Typ: ewiger Junggeselle unter Mutters Pantoffel. Immer ruhig, zurückhaltend, zu leise. Sein einziges Aufbäumen, kaum handflächengroß, posiert kokett am Küchenfenster. Mutter von innen sieht sie nicht, die schwarzweiße Dame im Bikini.

2. Etage, 2-Zimmer, Küche, Bad, zentral gelegen, ohne Leerstand immer vermietet gewesen. Das Bad hat dringend eine Generalüberholung nötig. Bei der ersten eigenen Wohnung kann man aber auch gnädig darüber hinwegsehen. Die Mieter: ein junges Paar, schwer verliebt. Sie Erzieherin in Ausbildung, er frischgebackener Bäckergeselle. Die Wohnung passt gerade in ihr Budget. Nachts liegen sie auf dem durch gesessenen Cord-Sofa, dass ihr Großvaters ihnen überlassen hat. Eingetaucht in den goldenen Glanz gemütlicher Lichterketten und träumen von der Zukunft. In ihren eigenen vier Wänden, vielleicht mit einer Handvoll Kinder, einem Hund und einem kleinen Garten. Oder in einer Wohnung im Grünen, im Dachgeschoss, mit einer riesigen Terrasse. Dort können sie mit ihren Freunden sitzen und warme Sommernächte genießen. Aber egal wo, Hauptsache, sie sind zusammen. In seiner Hosentasche schlummert ein schmaler, silberner Ring, zusammen gespart vom kleinen Lohn. Er wartet nur noch auf den richtigen Moment…

Im Hinterhof sticht, leuchtend orange, ein Aufkleber ins Auge. Gebürsteter Stahl verschließt – mehr schlecht als recht – den Zugang. Abgeblättertes rot ziert verwohntes Gemäuer. Das Flattern des rot-weißen Absperrbandes knallt laut durch die leere Straße. Viele Familien haben hier geliebt, gelebt, gestritten. Viele Feste wurden hier geplant, gefeiert, genossen. Viele Freundschaften sind hier entstanden, erblüht, vergangen.