“Nach prächtiger Fahrt durch das leuchtende Ägäische Meer liefen wir in die Gewässer der Inselgruppe von Santorin (Thera) ein. Das Walten ungeheurer vulkanischer Kräfte in grauer Vorzeit; der Gegensatz himmelhoher Klippen von schwarzbraunem Eruptivgestein mit den darüber gelagerten, blendend weißen Niederlassungen einer zahlreichen Bevölkerung, die dem Boden in unermüdlicher Arbeit den köstlichen Wein abgewinnt, die kindliche Liebenswürdigkeit der Einwohner, die gerade das Namensfest ihrer Patronin St. Irene feierten; die Pracht der Fernsicht über das blaue Meer hinweg bis zum Schneedom des kretischen Ida und auf die Inselwelt der Kykladen: all dies war eine Reihe der unvergesslichen Bilder.” Die Inseln dieser Gruppe bilden den Kreis (Kyklos) um die heilige Insel Delos: Apollons Geburtsstätte. Den Ankommenden bietet sich dort ein Landschaftsbild, grundverschieden vom südlich gelegenen Santorin. Eine nach innen sanft ansteigende Küste liegt vor ihren Augen. Die höchste Erhebung der Insel ist der Kynthos. Nach Osten fällt der wenig über 100 Meter hohe Berg mit seinen Granatflanken steil zum Meer ab. Nur wenig über 4 Kilometer beträgt die Längenausdehnung der Insel, 1200 Meter die größte Breite und der Umfang kaum 12 Kilometer. “Kein Baum spendet Schatten, nur kurzes Gestrüpp umkleidet die kahlen Hänge kümmerlich. Mag im Altertum auch etwas mehr Vegetation hier gewesen sein, so ist die Insel doch gewiss immer steinig gewesen, da bei dem raschen Ablauf der seltenen Niederschläge es kaum zu Humusbildung kommen kann; schon der Homerische Hymnos auf den Delischen Apollon spricht von der steinigen Insel. Nach der Überlieferung haben einstmals Karer, Phöniziens, Pelasger und die See beherrschenden Kreter die Insel besessen und hier ihre Götter verehrt. Zu der Zeit, als Troja vernichtet wurde, soll als König, Priester und Prophet Anios hier verweilt haben (Vergil). Homer lässt die Ionier in Delos ihren religiösen Mittelpunkt finden. Der Dichter, der blinde Sänger von Chios, wie er sich selbst nennt, hat in seinem Lied ein reich bewegtes Bild alt ionischen Lebens entworfen. Gewaltig tritt Apollon mit Pfeilen und Bogen ein in den Kreis der olympischen Götter; alle zittern vor ihm und erheben sich von ihren Sitzen; Leto aber nimmt dem Sohn die gefürchteten Waffen ab und geleitet ihn zum Thronsitz, stolz ihn, die Wonne der Sterblichen, geboren zu haben. Voll Stolz auf den nationalen Gott erwähnt der Sänger dann alle Orte, die sich, wenn auch widerwillig, der neuen Gottesverehrung erschließen mussten: von Kreta bis Thrakien, zum Ida und bis Milet, die Welt der Inseln. Hier an heiliger, unverletzlicher Stätte, um einen prächtigen Tempel werde Delos reich und mächtig machen, wenn auch der Boden kahl und dürftig sei. Delos ist erfreut über diese Verheißung, fürchtet aber, Apollon werde die armselige Insel verachten und sich in anderen gesegneten Landen eine Stätte bereiten. Da leistet Leto den heiligen Göttereid: Apollon wird dich immer ausnehmend ehren, und hier wird sein Altar und sein heiliger Bezirk sein!”
“Zither und Bogen sind meine Freuden, und des Zeus Ratschläge werde ich den Sterblichen verkünden!” Apollon, der heilbringende Gott des Lichts oder Primus inter pares?
Quelle: O. Fritsch – Delos, die Insel des Apollon
© Christian Mayerhofer 2025-04-15