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#1sommer1buchtirol#naturerlebnis

Spread your wings

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Spread your wings | story.one

Die Luft roch modrig vom herabgefallenen Laub, dennoch versprach die von einem stahlblauen Himmel strahlende Sonne einen der letzten wunderschönen Herbsttage. Der schon etwas kühle Oktoberwind rüttelte am bunten Blätterkleid der Bäume der Seufzerallee, in der schon meine Großmutter ihre müden Glieder von der schweren Feldarbeit auf einer Holzbank ausgeruht hatte. Mit zwei Walkingstöcken bewaffnet schritt ich zügig auf dem weichen, meine forschen Schritte dämpfenden Waldboden voran. Nur die herbstliche Sonne vermag es, die Farben der Blätter, als wären sie in einen Farbtopf gefallen, so intensiv zum Leuchten zu bringen. Ich genoss die friedliche Stimmung, die bloß durch melodiöses Vogelgezwitscher und dem leisen Rascheln des Laubs, als ich auf dem ausgetretenen Pfad zügig voranschritt, untermalt wurde.

Als ich an den langen Baumreihen hochsah, nahm ich plötzlich in einiger Entfernung einen gelben Farbklecks zwischen den Ästen einer noch wenig belaubten Eiche wahr. Neugierig beschleunigte ich mein Tempo, denn es sah so aus, als würde etwas in den Zweigen hängen.

Beim Näherkommen erkannte ich, dass es sich um einen armen Vogel handelte. Der helle Gelbton seines Gefieders fügte sich gut in die herbstliche Farbpalette des Waldes ein. Da pendelte ein wunderschöner Pirol kopfüber, von bunten Fäden umschlungen, wie die Beute einer Spinne, im hohen Baum! Wo hatte er diese Wollreste bloß gefunden, stammten sie etwa aus einem leeren Nest? In dieser misslichen Lage würde es dem Piepmatz wohl unmöglich sein, sich selbst zu befreien.

Was tun? Das arme Tier baumelte außerhalb meiner Reichweite und hinaufklettern auf den kranken, morschen Stamm der Eiche war keine gute Option. In unserem Bezirk gibt es sehr viele heiße Sonnentage und Regen ist ein seltener Gast. Deshalb schaffen es die immer heftiger dahinbrausenden Stürme, immer mehr Waldriesen aufgrund der langen Trockenphasen zu entwurzeln.

Es war gut, dass ich meine langen Stöcke dabei hatte. Denn mit ihrer Hilfe gelang es mir endlich nach mehreren glücklosen Versuchen, das gefiederte Tier aus seinem luftigen Gefängnis herunterzuholen. Währenddessen hatte der Singvogel mit dem prächtigen Federkleid keinen Laut von sich gegeben. Vermutlich hatte er schon längere Zeit vergeblich versucht, seine Fesseln zu lösen und war nun völlig entkräftet. Die hauchdünnen Fäden hatten sich eng um seine zarten Beine gewickelt und ich vermochte sie unmöglich aufknüpfen, so fest verknotet wie sie waren. Behutsam legte ich den Pirol in meine Jacke, um ihn geschwind nach Hause zu tragen.

Im Badezimmer schließlich gelang es meiner Tochter Jasmin, während ich ihn festhielt, die winzigen Knoten mit einer Nagelschere vorsichtig durchzuschneiden. Auf der Terrasse beobachteten wir unseren ängstlichen Kurzbesuch, wie er zuerst seine Flügel spreizte, um letztendlich majestätisch in die ersehnte Freiheit zu entschwinden. Ganz im Sinne von "Spread your wings and fly away"!

© Silvia Peiker 2020-09-27

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