0815 Kussszene

Erinnerst du dich an die letzte Kussszene, die du gesehen hast? Vielleicht in deiner Lieblings-Netflix-Serie? Beim Tatort? Oder bei der Rosamunde Pilcher Schnulze am Sonntagabend auf dem heimischen Sofa?

Wenn ja: Kannst du dich noch erinnern, wie genau diese Kussszene ablief und wie du sie fandest? Welche Gefühle dieser Kuss in dir geweckt hat? Welche Gedanken dir währenddessen durch den Kopf gingen? Ich lade dich ein, an dieser Stelle einmal bewusst innezuhalten und zu schauen, was du in deinem Kussszenen-Archiv so alles findest … Gefunden? Wunderbar, behalte das bitte für die nächsten Seiten im Kopf!

Falls du dich an keine solche Kussszene erinnern kannst, erlaube mir an dieser Stelle eine meiner Beobachtung nach typische Mainstream Kussszene aus der medialen Welt zu beschreiben: Im richtigen Moment schauen sich die beiden tief in die Augen. Wie in Zeitlupe neigen sich ihre Köpfe. Ihre Blicke wandern zwischen Mund und Augen des Gegenübers hin und her. Als sich ihre Lippen das erste Mal sanft berühren, schließen beide genüsslich die Augen. Seine starken Hände halten ihren Kopf. Sie hält sich an seinem Rücken fest. Sie lösen sich voneinander, halten kurz inne, um im Auge des Gegenübers nach Zweifeln zu suchen und fallen wieder leidenschaftlich übereinander her. Zungen, Stöhnen, an Körpern entlangfahrende Hände. Er drückt sie gegen den nächstbesten Türrahmen, umgreift ihren Hintern. Daraufhin schlingt sie ihr Bein um seine. Eine sich zu perfekt schlängelnde Spur an achtlos auf den Boden geworfenen Kleidungsstücken führt zum Bett. Sie schließt die Augen, drückt den Kopf ins Kissen. Ein leises Stöhnen löst sich von ihren Lippen als er an ihrem Hals knabbert und …

Warum ich dir das erzähle? Weil es mich persönlich echt aufregt, wie gleich diese Kussszenen oft ablaufen. Die Ähnlichkeit der Szenen ist nicht nur langweilig, sondern auch nicht repräsentativ und falsches Vorbild für alle Ungeküssten und Unsicheren in diesem hochemotionalen Gefilde. Denn eigentlich sind Küsse so unterschiedlich wie wir daran beteiligten Menschen. Jeder Kuss ist einzigartig und nicht wiederholbar. Küssen ist Liebe, kann Konflikt oder Frage und Antwort sein. Gewalt oder Sehnsucht. Heiß, kalt, aufregend und so viel mehr.

Ich schreibe dieses Buch, weil ich mich nicht nur mit Freundinnen darüber aufregen will, wie wenig die mediale Darstellung die Realität von Liebe, Sexualität und Körpern abbildet. Ich schreibe diese Seiten, weil es mir eine Herzenssache ist, dass sich Menschen, die sich näher kommen, nicht unter falschem Druck und zu unrealistischen Erwartungen verbiegen müssen. Es braucht eine realistische Erzählung über Küsse und wie sie passieren, damit sich etwas verändert – und zwar nicht nur in meinem Umfeld. Sondern auch in deinem.

Denn es ist nicht alles rosarot. Auch nicht in diesem Buch. Deshalb: Content Note (eine „Lesewarnung“), dass ich in den folgenden Kapiteln intime Szenen beschreibe und mehrere dieser Situationen Formen von Gewalt bzw. Macht enthalten. Wenn dir das zu nah geht, bitte lies den Text in einem Umfeld, das sich für dich gut anfühlt oder lass es.