11. Mit dem Fluss schwimmen

Dorian Auer

von Dorian Auer

Story

Bevor die Beziehung mit Claudio kippte, zerknitterte das Seidenpapier, auf dem die Geschichte für mein zukünftiges Berufsleben stand. Ich war erst 19, als ich die Rolle einer vorbildlichen Lehrerin mimte. Zu diesem Zeitpunkt studierte ich bereits seit vier Semestern und neben dem Lehramt in Englisch und Kunst, unterrichtete ich auf zwei unterschiedlichen Schulen: Auf einer Hauptschule und auf einem Gymnasium. Jeden Tag nach dem Frühstück setzte ich dafür meine mittlerweile gewohnte Maske auf, schlüpfte in formelle Damenkleidung, band mir die langen Haare so streng am Hinterkopf zusammen, dass ich davon Kopfschmerzen bekam, und übte mein nettestes Lächeln vor dem alten Badezimmerspiegel. Doch tief in mir drin war ich todunglücklich. Jeden Tag versuchte ich mich nicht zu fragen, was ich da eigentlich mit meinem Leben tat, sondern zuckte lethargisch die Achseln und besann mich darauf, dass meine Arbeit als vermeintliche Pädagogin der Wunschtraum meiner Eltern war. Sie nannten mich ganz stolz “Frau Lehrerin”. Ich gefiel ihnen in dieser Rolle und kam auch bei der Verwandtschaft gut an, die mich regelmäßig fragte, wann Claudio und ich Kinder bekämen. “Vielleicht, wenn ich 25 bin.”, antwortete ich dann und alle nickten anerkennend. Denn 25 war in ihren Augen das perfekte Alter für das erste Baby. Und während mich alle liebten und nur gut von mir sprachen, rumorte es unwohl in meinem Bauch. Als ich mit dem Fluss schwamm, jeder konservativen Norm entsprach und dabei auch noch erfolgreich war, arbeitete etwas tief in mir drin gegen all das. Da war sie wieder, die alte Übelkeit von früher, an die ich mich kaum erinnern wollte. Es war die, die ich verspürt hatte, als ich als Jugendlicher meine Reflektion in Schaufenstern gesehen und keinen Jungen, sondern ein Mädchen erkannt hatte. Die klammernde Ohnmacht holte mich wieder ein. Mit ihr kam die Abscheu gegen mich oder meinen Körper allmählich zurück. Und mir fiel Oni ein, der kreativ war, gerne schrieb, zeichnete und ein gebrochenes Herz hatte, weil niemand sein Geheimnis erfahren durfte: Er war ein Mann. Ich dachte an ihn, wie er am Bahnsteig Nummer Acht stand und mit Erdbeer-Süßigkeiten in den Händen auf ein hübsches Mädchen wartete. Die Geschlechtsdysphorie brach mit diesen Erinnerungen langsam durch mein Konstrukt aus Selbstaufgabe und -täuschung und kam über mich, wie eine brechende Welle aus Eiswasser. Es war spät Nachts, als das geschah. Ich saß gerade über einem Stapel Englisch-Tests meiner Hauptschulkinder, als ich glaubte, mir bliebe das Herz mit einem Mal stehen. Ich bekam keine Luft mehr. Unkontrolliert begann ich zu weinen. Und obwohl mich zu dieser Zeit jeder mochte, weil ich makellos und mein Tun perfekt waren, war ich allein mit mir und meinen Sorgen. Es war der Punkt, an dem ich damit aufhören hätte sollen, ein Charakter in einer vorgefertigten Lebensgeschichte zu sein. Doch leider würde es bis dahin noch gut zehn Jahre dauern.

© Dorian Auer 2022-07-28

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