8. Die Libelle

Bettina Bernegger

von Bettina Bernegger

Story

Nachdem Johnnies – damals noch Johannes von und zu mit vier weiteren Vornamen, Freiherr zu seiner Burg, die man ihm gleich darauf auch wieder abgefackelt hatte, Ritter eines Ordens, der es nicht mal in die GeschichtsbĂŒcher geschafft hatte – dritte Frau gestorben war, saß er ein Jahr lang vor einem Fenster und bewegte sich nicht.

Niemand vermisste ihn mehr: Die Kinder aus seinen ersten beiden Ehen und begleitenden AffĂ€ren waren schon an die hundert Jahre unter der Erde und der letzte seiner Sippe (ein Großneffe in dritter Generation) war gut zweihundert Jahre zuvor von einem Boot gefallen, welches ihn nach Jerusalem verschiffen sollte. Es war nicht das erste Mal, dass er alleine war, aber es war das erste Mal, dass er sich tatsĂ€chlich alleine fĂŒhlte.

Es war nur wenige Tage, nachdem seine Frau wieder zur Asche wurde, aus der sie entstanden war, als sich Johnnie eines Abends vor sein Stubenfenster setzte und sich danach einfach nicht mehr bewegte. Es fehlte ihn an allem und gleichzeitig schien es, als dass er von allem zu viel verspĂŒrte. Er war mĂŒde vom Leben. Nichts deprimierte ihn mehr, als noch eine Ewigkeit einfach vor sich hin leben zu mĂŒssen. Bevorstehende Unendlichkeit hatte noch nie so real gewirkt. Antriebslosigkeit genauso wenig.

Die melancholischen KlĂ€nge der Rockballade Reminders of your Blood werden im Fanmythos bis heute hartnĂ€ckig mit diesem Tief im Leben des Schlagzeugers verbunden. So stark war seine unsterbliche Liebe, dass ihn selbst das schmerzliche Sonnenlicht an den sĂŒĂŸen Geschmack seiner Geliebten erinnert hĂ€tte.

TatsÀchlich filterten die dicken ButzenglÀser das Sonnenlicht gut genug, sodass Johnnie nur einen leichten Sonnenbrand nach einem Jahr stillsitzen davontrug.

Im ersten Monat blinzelte er nur zweimal. Nach drei Monaten hatte er einmal geniest. Er versteinerte fast, so reglos ließ er Minuten, Tage und Monate ĂŒber sich ergehen, ohne richtig zu atmen, denken oder zu schlafen. Manchmal, wenn Johnnie sich von seinem modernen Leben ĂŒberfordert fĂŒhlte, tat er immer noch Ă€hnliches, indem er eine ganze Nacht das statische Flimmern seines Fernsehers anstarrte. Es erinnerte ihn an die Zeit, als seine dritte Frau noch bei ihm war.

„Warum hast du dann aufgehört, aus dem Fenster zu starren?“

Johnnie schlĂŒrfte aus seiner Suppenschale, bevor er antwortete: „Eines Tages, keine Ahnung wie lange ich schon vor meinem Fenster gesessen war, landete eine Libelle auf der Außenseite und blieb einfach sitzen. Und ich starrte einfach weiter. Diese Libelle saß einfach da und ahmte mich nach. Ich dachte, sie wolle mir Gesellschaft leisten. Libellen sind eigentlich ganz hĂŒbsche Lebewesen im Sonnenlicht. Nach ungefĂ€hr einem halben Jahr hatte sich die Libelle immer noch gerĂŒhrt was mich schließlich irritierte. Dann stand ich auf.“

Er seufzte. „Wusstest du, dass Libellen nur circa eine Woche leben? Und mehr als die HĂ€lfte ihrer Lebenszeit hat diese Libelle darauf verschwendet, mit mir an diesem Fenster zu sitzen.“

© Bettina Bernegger 2022-08-06

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