Meine Mutter kam normalerweise um 17 Uhr von ihrer Arbeit an der Bezirkshauptmannschaft nach Hause. Wenn sie noch einkaufen ging, wurde es auch manchmal 18 Uhr, aber selten später. Doch einmal kam sie nicht. Ich war allein daheim, 14 Jahre alt, ein Jahr zuvor war mein Vater gestorben, ein paar Wochen zuvor auch mein Großvater, und meine Großmutter, die auch in unserem Haus lebte, war für einige Tage bei ihrer Tochter zu Besuch.
Ich wartete, aber meine Mutter kam nicht. Ich schaute zum Fenster hinaus, ging auf die Straße, um sie schon von der Ferne sehen zu können. Aber sie kam nicht. Ich rief in ihrem Büro an, aber auf ihrer Klappe meldete sich niemand und die Telefonzentrale war nicht mehr besetzt, denn inzwischen war es nach 19 Uhr. Meine Großmutter, die ich anrief, konnte mir auch nicht helfen. Auch zwei Kolleginnen meiner Mutter, deren Telefonnummern ich hatte, meldeten sich nicht.
Meine Verzweiflung wuchs mit jeder Minute. Sollte ihr etwas passiert sein, wäre ich praktisch ganz allein auf der Welt, denn meine Großmutter war auch schon recht alt und nicht mehr gesund. Einen Anruf bei der Polizei wagte ich aber nicht. Inzwischen in Tränen aufgelöst, stand ich am Fenster und malte mir die furchtbarsten Szenarien aus.
Kurz vor neun Uhr, als es schon stockdunkel war, kam meine Mutter dann heim, fröhlich und ahnungslos, dass sie ein Häufchen Elend vorfinden würde. Eine Kollegin hatte irgendetwas gefeiert und alle spontan in ein Lokal eingeladen. Ich hielt meiner Mutter vor, sie hätte mich ja anrufen und informieren können, dann wäre das ja keinerlei Problem gewesen. Sie hatte ein eigenes Telefon im Amt und rief mich oft von dort an, vor allem um mich zu kontrollieren.
Aber statt mir zu erklären, warum sie nicht angerufen hatte, oder einzugestehen, dass sie schlichtweg darauf vergessen hatte, schrie sie mich an und sagte, sie habe auch ein Recht auf ein eigenes Leben und ich solle mich nicht so anstellen und ihr jede Freude verderben. Statt etwas Verständnis für mich zu zeigen, machte sie mir noch den Vorwurf egoistisch zu sein und ihr nichts zu gönnen.
Schließlich beruhigte ich mich, denn es war ja nicht wirklich etwas passiert. Und mit meiner Mutter über so etwas zu diskutieren, war ohnehin aussichtslos, denn sie hätte niemals eine Schuld zugegeben. Nicht einmal der Oberste Gerichtshof hätte sie davon überzeugen können, dass sie im Unrecht war. So weit kannte ich sie schließlich.
Ich bin überzeugt davon, dass sie den Vorfall schon am nächsten Tag vergessen hatte oder sich höchstens immer noch über mich ärgerte, und auch ich hätte es nicht so tragisch genommen, wenn sie Verständnis gezeigt hätte, denn ich bin von Natur aus nicht nachtragend. Aber durch ihre Uneinsichtigkeit hat sich mir dieses Erlebnis bis heute tief eingeprägt. Es wäre so leicht gewesen, das alles durch einen kurzen Anruf zu vermeiden, entweder aus dem Büro oder dem Lokal, wo es doch auch ein Telefon gegeben hätte. Ich sorgte mich jedenfalls nie wieder um meine Mutter.
© 2022-10-27