von S. Eva Riemann
Als ich mein 5 Jahre Tagebuch beendete, wurde mir klar, dass alles zusammenhängt. Mit einem Mal war ich nicht mehr 18 und auch nicht 21, und langsam begriff ich, dass ich keine Teenagerin mehr war, die alles weiß, sondern eine junge Frau, die nichts weiß, außer dass es keine richtigen Erwachsenen gibt.
Dank meines 18-jährigen Ichs, das einen Brief an sich selbst schrieb, der erst 2020 wieder geöffnet werden dürfte, weiß ich allerdings genau, wie ich mich damals fühlte . Man könnte meinen, so ein Brief würde nur Enttäuschungen bergen, aber im Gegenteil: Wenn ich diesen Brief lese, halten Zweifel und Tragödien, von denen ich dachte, ich würde an ihnen zerbrechen, Gedanken, die mich nachts um zwei Uhr heimsuchen und alles, was mir passiert ist, inne, um zu sehen, dass ich ich selbst bin. Dass ich immer zu mir zurückkehren kann. Mein Vergangenheits-Ich hatte zumindest hierfür die passenden Worte gefunden: Ich glaube, du bist genau wie ich, nur anders.
Ich kann nur schmunzeln über all die Zukünfte, die sich mein damaliges Ich ausgemalt hat. Sie dachte allen Ernstes, ich wäre vielleicht Bestsellerautorin, wenn ich den Brief lese und dass meine Freundinnen bald heiraten. Sie dachte, sie würde nie mit dem Schreiben aufhören, und am liebsten würde ich sie darauf vorbereiten, wie sehr sie darunter leiden wird, es zu verlieren, aber ihr Mut machen, dass es fast noch schöner ist, es wiederzufinden. Ich möchte ihr sagen, dass andere Dinge wahr wurden, aber nicht auf Wegen, die sie sich hätte vorstellen können.
Ja, ich liebe immer noch New York und Musicals, aber ich singe jetzt andere Lieder, wenn ich mir die Haare föne. Ich höre nicht mehr so oft Indierock und habe auch keine schwarze Wand mehr, aber ich gehe in einem rosa Rock im Wald spazieren und höre Folklore, und beides ist wunderbar heilsam. Ich kann ihr versichern, dass ihre beste Freundin immer noch meine beste Freundin ist, aber dass diese Freundschaft mit jedem Jahr nur wahrer, tiefer und wichtiger werden wird. Ich möchte ihr sagen, dass es okay ist, sich selbst zu verlieren und wieder- und neuzuerfinden, seine Meinung zu ändern und nicht zu wissen, was die Zukunft bringt oder was man sich selbst von ihr erhofft.
Denn wenn ich zurückblicke, oder auch nach vorn, sehe ich diese kosmischen Pfade um mich herumschwirren, aus lauter funkelnden Punkten, die sich aus zufallsartigen Gründen verbinden. Sie umwabern mich, strecken sich von der Vergangenheit der Zukunft entgegen. Ich sehe, dass es Pfade gibt, auf denen ich Dinge übersehen habe, auf denen Dinge hätten funktionieren können, und auf denen ich nur etwas länger hätte aushadern müssen, um zu sehen, dass sie doch wohin führen. Aber ich bedauere die Pfade nicht mehr, die ich nicht begangen habe. Ich glaube, dass es einen Grund gibt, weshalb ich mich auf diesem einen kosmischen Pfad befinde, der eben nicht im Universum schwebt, sondern wie ein unsichtbares Band um meinen Fuß gebunden ist. Und dass ich es, sollte ich es wollen, durchtrennen kann.
© S. Eva Riemann 2022-05-23