Anime perdute- Gebrochene Seelen

Claudia Schubert

von Claudia Schubert

Story

Es ist September. Das Jugendamt steht vor der Tür. Und gemeinsam mit ihm ein steriler Aktenordner und zwei schüchtern daherblickende Augenpaare.Vor ihren kleinen Füßen wartet eine sperrige Reisetasche, dürftig gefüllt mit wenigen Habseligkeiten und einer Wucht an unsichtbaren Mitbringseln aus einer Kindheit voller offener Fragen. Zwei Kinder, zwei Väter, eine Mutter. Und eine schleierhafte Vergangenheit befleckt mit Drogen, HIV und einem Leben ohne Wurzeln.

Wie lange dieses zarte Geschwisterpaar hier zur Ruhe kommen darf ist ungewiss. Bürokratie und von Ämtern beschlossene Lebenswege entscheiden über den Ausgang aller Partien: Sieg oder Niederlage. Bleiben oder weg.

Unbeeindruckt davon nehme ich diesen zierlichen, smarten Jungen in meinem Herzen auf. Er ist 8. Ein kleiner Sizilianer mit braunen Augen und leicht gewelltem Haar. Offiziell werde ich seine Bezugsperson, tatsächlich flickt mein Dasein bruchstückhaft das, was auf seiner turbulenten Reise eingerissen ist: Vertrauen, Geborgenheit, Zuwendung.

Er klopft an meiner Tür, wenn ihm nachts der Bauch weh tut, die Fingernägel kratzen oder er den zweiten Strumpf sucht. Gemeinsam kämpfen wir uns durch den Hühnerstall, sein chaotisches Zimmer, durch Abende voller Hausaufgaben- und einen dunklen Tunnel aus unausgesprochen Gefühlen und totgeschwiegenen Erlebnissen. In der Schule trete ich zu Elterngesprächen an, begleite ihn zu Fußballturnieren und monatlichen Zusammentreffen mit dem, was ihm aus seiner unklaren, für uns oft ungreifbaren Vergangenheit bleibt.

Er ist smart, gewitzt, intelligent, beißt sich durch. Passt sich schnell und clever an das Gemeinschaftsleben an. “Unauffällig„ würde man wahrscheinlich in den Akten lesen. Sein sanfter, gutmütiger Blick verhüllt einen Hauch von kindlicher Unschuld, doch hinter seinem Lächeln und seinem angeborenen südländischen Charme verbirgt sich eine kleine, gebrochene Seele. Er ist eins der Kinder, die aus einer fernen, schmerzvollen Welt hierher in diesen heilen Mikrokosmos gefunden haben und die Chance für einen Neuanfang bekommen.

Und ich- ich bin Mutter auf Zeit. Ich stecke in einer Mammutsrolle, werde schrittweise erwachsen. Beginne zu verstehen, welches Gewicht das Wort „Verantwortung„ mit sich trägt. Visionär möchte ich Wunden heilen und die kindliche Leere als Fels in der Brandung mit Leichtigkeit, Zuneigung und Eierkuchen füllen. Aber wer bin ich schon, um diese mächtige Aufgabe zu übernehmen?

Es ist September. Mit den Jahren ist der Hauch eines jugendlichen Schnurrbartes dazugekommen. Und etwas erfrischende, wohltuende Rebellion. Seine braunen Augen schauen mich an, leicht verlegen wie immer.

Doch in seinem Blick steht Enttäuschung, Schmerz, Wut. Ich habe sein Vertrauen missbraucht. Ihn verraten, verletzt. Mich nicht an die Spielregeln gehalten. Das Schicksal wiederholt. Die Partie ist vorbei. Verloren. Aus. Denn ich verlasse die Arena. Aber er bleibt zurück.

© Claudia Schubert 2020-05-12

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