Auftritt

Alexander Mittermeyer

von Alexander Mittermeyer

Story

Gemeinsam mit einem Inspizienten stand der Dirigent Mischa Woronin im Vorraum des Orchestergrabens. In wenigen Augenblicken würde „Simon Boccanegra“ beginnen.

Die Saaltüren wurden geschlossen und das Licht auf halbe Stärke zurückgenommen. Zunehmend trat Ruhe im Publikum ein. Auch die Musiker hörten auf zu spielen und warteten auf das Signal des Konzertmeisters, mit dem Stimmen zu beginnen.

Dieser Moment hatte für Mischa schon immer etwas Magisches. Zuerst spielte jeder Musiker einzelne Melodien oder Wendungen aus dem Werk für sich.

Der Geiger am 2. Pult spielte eine Figur vom Beginn des Werks und sein Nachbar einzelne Noten aus dem Finale des ersten Akts, die für ihn rhythmisch herausfordernd waren.

Der erste Flötist übte mehrmals die gleiche Stelle. Die erste Oboe hatte den Kopf über die linke Schulter gedreht und unterhielt sich angeregt mit dem zweiten Fagott. In Summe entstand so ein wunderbarer, bunter Lärm, der alles andere als unangenehm war.

Der Konzertmeister stand auf und blickte zum ersten Oboisten. Mehr als siebzig Individuen waren nun bereit zu einem Klangkörper zu werden.

Er nickte dem ersten Oboisten zu, der für alle Musiker nun den Kammerton A anstimmte. Zuerst waren es die Bläser, die den Ton übernahmen. Ein kurzes Aufwallen eines freundlichen Durcheinanders und schnell wieder eintretende Ruhe.

Erneut spielte die Oboe den Kammerton. Diesmal für die Streicher. Konzertmeister, die Streichersolisten und die Stimmführer übernahmen ihn und das Stimmen wanderte in den Pulten der Streicher nach hinten.

Die Orchestermusiker verstummten und das Licht ging ganz zurück. Mischa hörte das Öffnen einer Saaltür und dann das Rascheln einer großen Garderobe, die sich eilig im Zuschauerraum bewegte.

Der Inspizient bedeutete ihm, dass er nun auftreten konnte. Er nahm Haltung an, atmete tief ein und trat in den Orchestergraben.

Die ersten Hände applaudierten und binnen weniger Momente gewann der Chor der Klatschenden genug Mitglieder, um einen freundlichen Applaus zu setzen. Er grüßte den Konzertmeister mit Handschlag und betrat sein Pult.

Keine Bewegung war zu hören. Die Zuspätkommenden dürften ihre Plätze gefunden haben.

Nach einem Gruß in das Orchester öffnete er die Partitur. Bedächtig senkte er den Kopf und legte die Hände, den Taktstock in der rechten Hand, vor seinem Körper übereinander.

Er wollte innehalten, bis die Spannung, die ihn durchdrang, auch Publikum und Musiker erfasste. Er durfte jedoch nicht erlauben, dass ein Hauch von Unruhe auch nur eine Person aus der Konzentration riss und dadurch die Spannung für alle zerstörte.

Es galt exakt den Moment treffen, in dem Sekunden zur Ewigkeit wurden, es aber noch niemand bemerkte. Jeder im Raum hielten seinen Atem an.

Er sah auf, blickte kurz in das Orchester und hob den Taktstock. Man spürte förmlich, wie die Menschen im Raum kollektiv ausatmen wollten. Seine rechte Hand fiel zur Eins.

Sanft setzten die Streicher ein.

Das Publikum atmete aus.

© Alexander Mittermeyer 2021-08-13

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