von Daniel Selent
Der Eisverkäufer lief an der Theke vorbei, erntete Erfolgs- und Glückwünsche seiner Kolleginnen und Kollegen und ließ dabei den Eiskorb schwingen. Mit der roten Eistasche um die Schulter sah er ein bisschen aus wie ein Postbote, der seinem Zeitplan hinterherhinkt. Schweiß rann ihm die Stirn hinab auf die Nase, wo er ihn sich abwischte. Es war ein ungewöhnlich heißer Augustnachmittag.
Er war auf dem Weg nach Kino 2, wo sich über zweihundert aufgeregte Kinogäste versammelt hatten, um gemeinsam einen kleinen Film zu schauen, der kaum beworben worden war und von dem niemand so richtig wusste, wovon er handelte. Nichtmal die Theaterleitung konnte so wirklich erklären, was es mit diesem Film auf sich hatte.
Mit einer Hand öffnete der Eisverkäufer die schwere Tür zu Kino 2 und erklomm die in relativer Dunkelheit liegende Treppe. Auf der Leinwand prangten die Eispreise, über die so manche Kunden sich bereits mehrfach lustig gemacht hatten. Der Eiskorb knirschte in den Händen des Jungen und er konnte die Kälte an seinem Oberschenkel spüren.
Rappelvoll war kein Begriff. Jeder Sitzplatz war ausgefüllt von einem begierig starrenden Kinogänger, sie alle fixierten den Bildschirm mit gebannten Blicken. Als der Eisverkäufer vor die Leute trat, wandten sie alle sich wie mit einer Bewegung zu ihm um. „Hallo!“, rief der Verkäufer laut und freundlich. „Möchte jemand ein Eis?“
Die Menge reagierte ungehalten. „Nein, starten Sie endlich den Film!“
Die Zuschauer jubelten, als der Eisverkäufer endlich die Starttaste gedrückt hatte und der letzte Werbespot anlief. In ihren Augen konnte der Junge heiße Erwartung sehen, gemischt mit kindischer Ungeduld. Die schwere Tür fiel hinter ihm zu und er sagte zu sich selbst: „Muss ein richtig guter Film sein …“
Später am Abend, als der letzte Film angelaufen war und das Kino in sommerlicher Stille ruhte, kam eine der Mitarbeiterinnen in die Lobby gestürzt, Besen und Müllsack in je einer Hand. „Die Leute aus Kino 2!“ Sie blieb an der Theke stehen, wo der Eisverkäufer in ein Gespräch mit einem Kollegen vertieft war. „Sie sind alle weg! Habt ihr sie hinausgehen sehen?“
Verwirrung machte sich unter den Arbeitenden breit. Niemand habe über zweihundert Kinobesucher das Gebäude verlassen sehen, sagten sie. Daraufhin eilte die Mitarbeiterin auf das Büro zu und verschwand hinter der stillen Kasse. Atemlose Stimmen waren zu hören, dumpfe Fragen und belustigtes Antworten.
Die junge Frau verließ das Büro mit dem Chef, der grinsend den Eisverkäufer zu sich winkte, und zu dritt marschierten sie in Richtung Kino 2. Der ältere Herr erwartete einen Scherz, derer hatte es in der Vergangenheit viele gegeben, doch als sie die hell erleuchtete Treppe hinaufstiegen und einen leeren Saal vorfanden, verschwand das Lächeln und wurde ersetzt durch einen Ausdruck dümmlichen Entsetzens. Die Leinwand gähnte schwarz, als wäre der Strom ausgefallen, und die Sitze waren leer. Die Menschen aus Kino 2 waren verschwunden.
© Daniel Selent 2025-02-04