Romy, 2018
„Isa, ich bekomme eine Glatze“, ruft sie verzweifelt aus.
„Romy, du bekommst keine Glatze. Du hast ganz normale Haare“, entgegne ich genervt.
„Aber du kannst dich erinnern, wie dichtes Haar ich als Richard hatte?“, fragt sie mich auffordernd und starrt mich lauernd an. In diesem Moment finde ich sie nicht hübsch. Es liegt an diesem Gesichtsausdruck, den ich nicht mag.
„Romy, du hast wunderschöne Haare“, versuche ich ihr zu vermitteln.
„Sie gehen mir büschelweise aus, wenn ich sie wasche“, erzählt sie düster
„Wie oft wäscht du sie denn?“, frage ich, um eine normale Konversation bemüht.
„Ja, fast jeden Tag“, meint sie, wie selbstverständlich.
„Das solltest du nicht tun, das strapaziert sie viel zu sehr“, ist meine Meinung.
„Aber sonst sehe ich furchtbar aus“, ruft sie entsetzt aus.
„Nein, du bist bezaubernd“, widerspreche ich ihr.
Romy schnaubt verächtlich und ich beschließe vorerst nichts zu sagen. Doch es ist natürlich noch nicht vorbei. Sie beugt ihren Kopf zu mir herab und teilt mit den Händen ihren Scheitel.
„Schau! Wenn ich nicht kaschiere, dann sieht man die Kopfhaut“, meckert sie.
„Blödsinn! Außerdem gibt es Perücken“, sage ich und bereue diese Aussage postwendend.
„Aha! Jetzt hast du zugegeben, dass ich eine Glatze bekomme“, ruft sie triumphierend.
„Nein, habe ich nicht!“, es ist zu spät. Sie nimmt mich fest an den Handgelenken und zwingt mich, sie anzusehen.
„Isa, ich bekomme eine Glatze. Und damit kann ich nicht leben“, zischt sie zwischen den Zähnen hindurch.
„Es stimmt, dass du als Richard festere Haare hattest, aber du bist weit entfernt davon, eine Glatze zu bekommen. Und wenn es einmal so sein sollte, dann musst du eben mit einer Perücke leben. Was sollten Patienten machen, die eine Chemotherapie hatten?“, versuche ich in sanften Ton. Aber es war ein Fehler.
Wieder zuhause, werde ich sehr traurig.
Zum einen, habe ich das Gefühl, mich bei allen Krebspatienten entschuldigen zu müssen, die dazu gezwungen sind, eine Perücke zu tragen und zum anderen bei jenen Menschen, die unter Alopezie leiden.
Ich entschuldige mich für Romy.
Ich entschuldige mich und sage, sie meint es nicht so. Aber das nehme ich mir selbst nicht ab.
Im Grunde geht es nicht um ihre Haare.
Im Grunde geht es nicht um ihren Kiefer, um ihre Stirn, um ihre Arme, ihre Hände und ihre Hüften.
Im Grunde geht es darum, dass sie darunter leidet, nicht zu wissen, wer sie ist.
Sie war ein Junge, ohne tatsächlich ein Junge zu sein.
Nun ist sie eine Frau, ohne die Entwicklung zu einem Mädchen durchgemacht zu haben. Sie weiß nicht, wie es sich anfühlt, in die Pubertät zu kommen. Sie weiß nicht, wie sich ein Mädchen verhalten soll.
Sie sieht im Spiegel noch immer einen Mann.
Nein, falsch! Sie sieht im Spiegel weder Mann noch Frau.
Sie kann mit ihrem Spiegelbild und ihrem Körper nichts anfangen.
Als Richard hatte sie viele Freunde, denn er war lustig und unbefangen.
Romy mit ihrer schwierigen Art ist nur schwer auszuhalten.
Aber ich habe noch nicht aufgegeben…
© Isabella Maria Kern 2019-11-18