von Peter Stangl
Eisiger Wind peitschte gegen die alten Gemäuer des Turms, als Xentari mit gesenktem Kopf durch die verstaubten Gänge schritt. Ihr Umhang, schwarz wie die Nacht selbst, flatterte hinter ihr her und ihr Atem bildete kleine Nebelwolken in der kalten Luft. In ihren Händen trug sie das Buch der Bellasim, einen uralten Folianten, dessen lederner Einband rissig und verwittert war. Die bedrückende Stille des Turms wurde nur vom Knistern des Feuers im Kamin und dem Rascheln der Seiten durchbrochen, als Xentari durch die alten Geschichten blätterte. Legenden von mächtigen Gegenständen und vergessenen Waffen, einst im Besitz des Magierbundes, jagten ihr einen Schauer über den Rücken. Xentari war eine Hexe, respektiert und zugleich gefürchtet in Velora. Ihre Suche nach dem Buch der Obscura, einem noch geheimnisvolleren und dunkleren Werk, war in aller Munde. Gerüchte besagten, es enthalte Macht jenseits menschlicher Vorstellungskraft, aber auch unfassbares Grauen. Monatelang hatte sie Bibliotheken durchforstet, Archive geplündert und alte Magier in der Stadt befragt, doch das Buch der Obscura blieb unauffindbar. Die Enttäuschung nagte an ihr, doch ihre Entschlossenheit wuchs. Sie würde das Buch finden, koste es, was es wolle. Im Kaminfeuer tauchte plötzlich ein Gesicht auf, dessen schemenhafter Umriss sich nicht eindeutig erkennen ließ. Xentari selbst wusste nicht wie ihr Meister aussah, nur dass ihr Schicksal aufgrund der Prophezeihung ihres Clans in seinen Händen lag. Sie kannte nicht einmal seinen Namen, da er stets nur mit „Merafi“ angesprochen werden wollte, was in der alten Sprache so viel wie Meister oder Herrscher bedeutete. Er wollte wissen, wie weit sie mit der Suche nach dem Buch der Obscura gekommen war. Nervös versuchte sie ihn zu beruhigen. Sie hatte nahezu alle Bibliotheken durchsucht und die Magier, die nicht helfen wollten, mit der Unterstützung des Königs aus der Stadt vertrieben. Merafi war zufrieden. Er erinnerte sie daran, dass die Portale nur dann geöffnet werden konnten, wenn sie das Buch und die anderen Folianten finden würde. Xentari hatte noch ein besonderes Geschenk für ihren Meister: Sie hatte das Buch der Bellasim gefunden. Nun grinste die schemenhafte Gestalt. Sie habe ihre Aufgabe sehr gut gemacht und solle eine Nachricht an die anderen Hexen Veloras senden. Möglicherweise wurde das Buch schon an anderer Stelle gefunden, ohne dass sie davon wüssten. Sie sollten anfangen, die Welt nach den Fahrtero abzusuchen. Ihr Meister hatte großes Interesse an ihnen, da sie für seinen Plan von großer Wichtigkeit waren. „Wir werden die alten Fallenzauber aus dem letzten Krieg einsetzen, die wir damals gegen sie verwendet haben. Ich denke nicht, dass sich heute noch jemand an sie erinnert.“ Merafi nickte und verließ den Kamin mit den Worten: „Enttäuscht mich nicht!“ Xentari war entschlossener denn je und ballte ihre Hand zu einer Faust. Ein diabolisches Lachen durchbrach die Stille des Raumes. Xentaris Augen glühten förmlich vor Ehrgeiz. Die Zeit war gekommen, härter gegen die Feinde ihres Plans vorzugehen. Mit einem eisigen Lächeln schritt sie zum Fenster. In der Ferne erblickte sie eine graue Katze, die sie argwöhnisch musterte. Ein Ausdruck der Verachtung huschte über Xentaris Gesicht…
© Peter Stangl 2024-09-20