Das Familiengeheimnis (1)

Der Angstschweiß ran ihm kalt über seinen Rücken. Seine Augen hetzten ohne Pause und erbarmungslos hin und her. Wie konnte es nur so weit kommen? Er wusste es nicht. Er war sich nur über eines im Klaren. So konnte er nicht weiterleben. Er musste sich wieder die Kontrolle über sein Leben zurückholen. Es gab nur einen Weg, um dies auch tatsächlich zu schaffen. Er musste endlich, dass lang gehütete Familiengeheimnis lüften. Dieses Geheimnis, welches seit Jahrzehnten wie eine dunkle Wolke über sämtliche Genrationen seiner Familie schwebte. Er hatte sich nie wirklich über seinen Familienstammbau informiert, geschweige denn dafür interessiert. Doch bereits von klein auf gab es diese eine spezielle Sache. Nur ganz verschwommen kann er sich daran erinnern. Als er noch kleiner war, gingen die Erwachsenen immer in ein anderes Zimmer, wenn es wieder einmal so weit war. Er wurde dann immer mit den Worten: >>Die Erwachsenen müssen etwas Wichtiges besprechen<<, vertröstet. Mit dem Heranwachsen änderte sich daran nicht viel. Doch die Neugierde wurde immer größer. Eines Tages, er dürfte ungefähr zehn Jahre gewesen sein, wurde er wieder einmal mit der altbekannten Phrase abgespeist. Doch dieses Mal fasste er seinen ganzen Mut zusammen und lauschte an der Tür. Während dieser paar Minuten befand er sich auf einer Achterbahn der Gefühle. Während er sich anfangs noch stark und mutig fühlte, änderte sich dies innerhalb weniger Sekunden. Er schaffte es gerade noch zurück in seinen Sessel, bevor alle aus dem großen Speisezimmer kamen. Sein Herz pochte wie verrückt gegen seine Brust. Er konnte nur Bruchstücke des Gespräches hören. Was er damit anfangen sollte, wusste er aber nicht. Seit diesem einen verregneten Nachmittag sind mittlerweile 15 Jahre vergangen. Er hatte keine Ahnung, dass dieses Gespräch jemals von Bedeutung für ihn sein würde. Als ältester Nachkomme in seiner Familie, fand er es auch nicht seltsam, dass ihm das Familienerbstück nach dem Tod seines Vaters weitergegeben wurde. Doch nun läuteten alle Alarmglocken schrill und ohrenbetäubend in seinem Kopf. >>Fliehen nützt ihnen nichts, wir wissen, dass sich der Dolch in ihrem Besitz befindet<<, dröhnte es aus einem Lautsprecher außerhalb des Gebäudes. Er hatte schon des Öfteren wegen ein paar Kleinigkeiten Probleme mit der Polizei. Deswegen lief er instinktiv weg, als sie ihn vor ein paar Minuten an einer Straßenecke nach seinem Ausweis fragten. Doch bei dem Wort Dolch drehte sich sein Magen um. Plötzlich sah er sein neugieriges zehnjähriges Ich vor seinen Augen wieder. Das Gespräch, welches er damals belauschte, artete ziemlich schnell in einen Streit aus. Es war das letzte Mal, dass die Erwachsenen der Familie gemeinsam im großen Speisesaal waren. Die Worte von jenem Nachmittag leuchteten nun rot vor seinen Augen. Familienerbstück und Dolch.