von MISERANDVS
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“Wir sind doch damals regelmäßig hingefahren, wenn wir im Turnus dran waren mit der Messe.” “Ah ja?”, mach ich. “Ja, sicher. Und du hast ganz oft was geschrieben. Weißt du das denn nicht mehr?” Ich schüttle den Kopf. Das muss ein anderer gewesen sein. Ich und die Kirche und Geschichten? “Ich hab sie alle aufgehoben, deine…”, und Markus sagt ein Wort, das mich auf einmal stürmisch packt, mich wild berührt und mich zum Schniefen bringt: “… Predigten.” Ich schweige, zerdrücke ein Tränchen, vielleicht auch zwei. “Manchmal, da les ich deine Predigten, wie die eine, die ‘100 b.p.m.’ heißt. Beats per minute. Den Begriff kannte ich davor noch gar nicht. Und dann horch ich in mich hinein, wie mein Herz schlägt, wenn ich mit Gott spreche. Dank deiner schönen Predigt, die so viele Jahre zurückliegt und mich bis heute begleitet, kann ich mich intensiv spüren… und Ihn. Das wollt‘ ich dir immer schon einmal sagen.“ Scheiße! Damit hat er mich kalt erwischt, so kalt von hinten, dass mir direkt wohlig warm wird. Markus ist der zweite, der mir gesteht, dass er meine Geschichten aufgehoben hat.
Meine Englisch-Professorin hat meine Schularbeiten aufgehoben. Nur meine. Und manchmal, sagt sie, liest sie sie, weil ich so einen schönen Stil gehabt hätte, damals. Während andere in anderthalb Stunden quasi um ihr Leben geschrieben hätten, oder wild strauchelnd eine gute Note anvisiert, hätte sie mir dabei zugesehen, wie ich ganz ruhig und tief entspannt – mal grübelnd, machmal lächelnd – meine Geschichte hingeschrieben hätte. Und mich beim Schreiben zu beobachten, … sie hätt es kaum erwarten können, meine Arbeit endlich lesen zu können.
Ich kneif die Augen zusammen. Soso. “Du also auch, Markus?”, denk ich stille… Ich meine, ich bin da einer dubiosen Sache auf der Spur. Geschichtensammler – Hochverdächtig sowas!
“Wie geht es dir?”, fragt Markus dann. Ich berichte, dass ich traurig bin. Und ich erzähle … von Lydias Koma. “Sechs Jahre!”, sagt er: “Lieber Gott!” Ich erzähle ihm, wie fürchterlich die Beisetzung von Lydia für mich war. Was der Priester da über sie erzählen musste, was sie ihm für einen Scheiß über Lydia zusammengeschrieben hatten. Als ich das Wort “Priester” sage, poltert er wild los: “DAS IST KEIN PRIESTER! DAS IST EIN PFARRER!” “Woohoo!”, mache ich, und lache schallend los. Wunden Punkt getroffen oder wie? Und da legt er erst richtig los. Er zieht vom Leder über die Evangelischen. Ich gebe hier nicht wieder, wie er sich bitter beschwert darüber, was er mit “denen” mitmacht, wenn er mit “so einem” eine Beisetzung begleiten muss. “Gibt doch aber auch Nette unter den Evangelischen.”, sage ich und denk an einen Bestimmten. “Wie heutzutage überhaupt noch einer Evangelisch sein wollen kann! Unbegreiflich!”, schließt er seinen wilden Wortesturm. Ich schmunzel, verkneif mir jeden Kommentar. Am Ende lös‘ ich noch mit einer unbedachten Meldung einen Glaubenskrieg aus! Da schwelen alte Feuer – keine Frage.
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© MISERANDVS 2021-12-07