von Sonja Schiff
1990
Als ich ihn kennenlernte, trug er Anzug, Krawatte und polierte Schuhe. “Es geht nichts über den ersten Eindruck!”, erklärte er mir, mit einem schelmischen Augenzinkern, als er meinen erstaunten Blick sah. Gleich darauf schwang er einladend seinen Gehstock und bat mich in die kleine Wohnung. Seine erste eigene Wohnung, wie ich später erfahren sollte.
Von der ersten Sekunde an mochte ich ihn.
Einen Tag später morgens um sieben. Ich kam, um ihm beim Duschen zu helfen und er wollte mir nun auch sein offenes Bein zeigen, das ich in Zukunft, als seine Hauskrankenschwester, verbinden sollte. Nun trug er Hausschlapfen, eine Pyjamahose und einen Bademantel, obwohl ohnehin hochgeschlossen, hielt er seinen Kragen um den Hals extra fest.
„Heute wird’s ernst“, sagte er zur Begrüßung, drehte sich etwas zu abrupt um und stapfte wackeligen Schrittes Richtung Bad. Ich folgte in kurzem Abstand. Dort angekommen schloss er zu meiner Überraschung, noch bevor ich eintreten konnte, hinter sich die Tür. Etwas ratlos stand ich in dem kleinen dunklen Vorraum. Wartete, lauschte. Er ächzte und schnaufte. Nach einer Weile hörte ich ihn rufen: „Ich bin jetzt nackt. Sie können kommen“. Und dann fügte er etwas lauter noch hinzu: „Aber bitte nicht erschrecken!“
Erschrecken? Ich?
„Scherzkeks“, ging mir durch den Kopf und kurz hatte ich auch Sorge, er könnte mich mit irgendeiner Anzüglichkeit konfrontieren. Als Krankenpflegerin habe ich da schon einiges erlebt. Alte Männer neigen nicht selten zu Selbstüberschätzung.
„Tattaaaaa!“, trötete er, als ich vorsichtig eintrat. Da stand er vor mir. Ein Greis von 95 Jahren. Nackt, dünn, runzelig. Und tätowiert vom Hals bis zu den Zehen.
Es gibt Menschen, deren Lebenserinnerungen kleben in Fotoalben. Wenn sie alt sind, blättern sie darin und schwelgen in Nostalgie. Mein neuer Patient trug sein Leben auf der Haut. „Jede Lebensstation ein Peckerl.“, sagte er oft nach dem Duschen, tippte mit den Fingern auf ein Tattoo seiner Wahl und erzählte: Dreizehntes Kind eines Bergbauern, mit 6 Jahren zum Arbeiten weitergereicht an einen reichen Hof, homosexuell, Nazizeit, Zuchthaus, irgendwie überlebt, Flucht, aufs Schiff, Matrose auf den Weltmeeren, in den 70ern zurück an Land, Hamburg, Rotlichtmilieu, schiefe Bahn, erneut Gefängnis. Ablehnung, Verachtung, Ausgrenzung. Ein Leben wie eine Hochschaubahn und nie irgendwo daheim. Endstation Österreich. Die erste eigene Wohnung. Eine Sozialwohnung im Glasscherbenviertel am Rande der Stadt.
Als er starb, habe ich bitterlich geweint. Auch weil der Pfarrer, der das Armenbegräbnis hielt, ihm mit seiner herablassenden Ansprache noch einmal die Würde raubte. Sogar am letzten Weg!
2021
Die Begegnung ist ewig her, ich hatte den alten Mann schon ganz vergessen. Doch gestern als ich bei meiner Tätowiererin saß, erinnerte ich mich plötzlich wieder. Mir war, als würde er über meine Schulter schauen und wissend nicken: “Für jede Lebensstation ein Peckerl“.
© Sonja Schiff 2021-09-02