Das tödliche Eis

Jule Rottewert

von Jule Rottewert

Story

Ich konnte Menschen, die alles für ihr Überleben taten, nie so richtig verstehen. Auf einer gestrandeten Insel wurden Freunde zu Feinden und das Überleben stand über allen menschlichen Werten. Das war für mich bis jetzt unvorstellbar…

„Wir stoßen auf eine tolle Reise und eine wichtige Mission an. Mögen wir in der Arktis etwas finden, dass die Erden retten kann und den Klimawandel aufhält. Als Team werden wir es schaffen. Das, meine Kameraden, wird die Reise eures Lebens! Prost!“

Ich hörte die Worte noch in meinem Ohr nachhallen, wie ein mahnendes Echo meines verbliebenden Verstandes. „Die Reise eures Lebens“, ja die Schlimmste. Wir, die renommiertesten Arktis- und Klimawandelforscher, wurden auf diese teure und gut geplante Mission geschickt, um die Erderwärmung und ihre Auswirkungen weiter zu erforschen. Jetzt lag ich in der Kleidung meines toten Kameraden, eingerollt hinter einer verbarrikadierten Tür in meiner Kabine, ich hatte mir so viele Lebensmittel aus der Küche geholt, wie es vor ein paar Tagen noch möglich war. In der Hand hielt ich ein Küchenmesser fest umklammert. Wir waren von Kollegen, zu Freunden, zu Feinden geworden. Jeder kämpfte für sich um sein Überleben. Der Strom war vor drei Tagen ausgefallen, das Notstromaggregat tat sein Bestes, aber die Temperatur lag seit gestern unter null und ich spürte seitdem meine Zehen nicht mehr, wahrscheinlich waren sie abgestorben vor Kälte. Die Hälfte der Crew war einem bösartigen Virus zum Opfer gefallen, der im Eis eingefroren war und durch die Erwärmung der Erde freigelegt wurde. Eine Art von Pest. Es war ein elendiger Tod, der sie in den Wahnsinn getrieben hatte, bis ihre Gehirne so abstoßend und verdreht waren wie ihre Körper. Als wir die ersten Fälle gemeldet hatten, hat das Seuchenschutzkommando uns verboten den langersehnten Rücktritt anzutreten, wir durften das Schiff nicht verlassen. Hinter unserem Rücken wurde beschlossen, dass der Ausbruch dieser Seuche der Vorreiter einer weltweiten Katastrophe war. Wir wurden zum Abschuss freigegeben. Die Welt sollte und würde niemals von diesem Vorfall erfahren. Wir hatten alle Daten weitergeleitet, sie hatten bekommen was sie wollten und jetzt waren wir wertlos. Die Rakete verfehlte uns nur knapp, aber explodierte nah genug, um eine Rückkehr unmöglich zu machen. Ich wusste, ich würde hier sterben. Weil der Mensch seit Jahren die Erde zerstörte, würde ich hier, alleine im Eis gefangen, sterben müssen. Wie armselig. Aber mit der Angst kam auch die Erkenntnis. Die Menschen, die auf der gestrandeten Insel ankamen, waren nie dieselben, die sie wieder verließen. Ich hatte jegliche Moral abgelegt und würde alles für mein Überleben tun, ich war noch nicht bereit zu sterben, so wie alle anderen hier auch. Man könnte sagen, ich hatte nun mein volles Maß an Menschlichkeit erreicht. Ich hörte Schritte im Gang. Ich zog intuitiv meine Beine näher an mich und umklammerte das Messer. Es ging ein Ruck durch meine Tür, das sperrige Holzregal würde den Eindringling nicht lange vorm Eindringen hindern können. War das nun das Ende?


© Jule Rottewert 2023-09-08

Genres
Spannung & Horror