Es verfolgte seine Beute bereits seit Sonnenuntergang, stets darauf bedacht nicht entdeckt zu werden.
Die Kreatur sah dem Mann dabei zu wie er gelassen und ahnungslos die Tür zu einem Gasthaus öffnete und hineintrat. Ein leises Knurren entwich der Kreatur, während sie auf den Sims des Gasthauses sprang. Sie ließ sich herab auf einen Fenstervorsprung und starrte mit gierigen Augen in die Stube hinein.
Es war nicht viel los und so hatte sie den Mann schnell wieder in den Fokus gefasst. Er saß an der Theke und unterhielt sich angeregt mit einer jungen Frau über etwas. Dem gewaltigen Umriss am Fenster schenkte er keine Beachtung, auch nicht als dieser zum nächsten, gekippten Fenster huschte. Das Wesen presste sein Ohr an das Fenster und lauschte.
“Es ist schon seltsam, dass so viele Menschen in der Nacht verschwinden, aber man darf auch nicht vergessen, dass so etwas in einer solch großen Stadt passieren kann. Vielleicht wollten sie ihren Schuldnern entfliehen oder fanden gar die Liebe am Land. Machen sie sich keine Sorgen junge Frau, hier wird schon nichts Böses vorgehen.“
Die Frau nickte und entgegnete: “Ich habe ja gehört, das ein Ungeheuer hier sein Unwesen treiben soll. Ein Menschenfresser, den die Händler aus dem Osten eingeschleppt haben.”
Daraufhin brach der Mann in schallendes Gelächter aus: “Gnädigste, ich bitte Sie! Ein Ungeheuer? Hier, in Augsburg? So etwas wie Ungeheuer gibt es doch gar nicht! Und selbst wenn diese Leute wahrlich getötet wurden, so handelt es sich allenfalls um die Tat eines Wahnsinnigen und nicht um eine Ausgeburt der Hölle!”. Die Kreatur merkte wie die dunkle Straße unter ihr plötzlich von zwei Laternen erleuchtet wurde, als zwei Stadtwachen auf Patrouille die Straße absuchten. Mit einem Satz sprang die massive Kreatur beinahe lautlos auf eines der umliegenden Dächer und verbarg sich im Schatten des Kirchturmes. Einige Stunden vergingen bevor die Tür des Wirtshauses aufgestoßen wurde und der Mann, nun schon sehr angetrunken, auf die Straße wankte. Das Wesen schleckte sich gierig über seine messerscharfen Zähne, seine Klauen drohten vor lauter Anspannung, die Dachziegel, auf denen sie stand, zu zerbrechen. Nichtsahnend stolperte der Mann, ein Kinderlied summend, in Richtung Stadtplatz, während die Kreatur ihn über die Dächer verfolgte. Im dämmrigen Licht des Mondes trat der Mann mit unsicherem Schritt auf den Platz, immer noch summend und pfeifend. Das Ungeheuer nahm Anlauf und sprang von den Dächern und dem Mann dabei beinahe vor die Füße. Er erstarrte und sah dem Wesen voller Furcht in die Augen.
“Du bist d…das…”, stammelte der Mann, doch die Kreatur kam ihm krächzend zuvor, ihre Stimme gereizt und unmenschlich: “Unge…. heuer….”. Noch bevor der Schrei des Mannes aus ihm hervortrat, sprang ihn die Kreatur an. Am nächsten Tag fand man die Überreste des Mannes im Brunnen der Stadt. Wie bei allen Opfern fand man auch neben seiner Leiche ein furchterregendes Gebilde. Ein Origami aus Haut.
© Benjamin Mitterhuber 2021-06-28