In der Mythologie der Ureinwohner Mittel- und Nordamerikas spielt der Donnervogel, ein riesenhafter Adler, eine zentrale Rolle als mächtiges Totem-Tier. Dies ist er nicht ohne Grund, denn er sorgte für die Menschen und half ihnen in Not. Jedoch gab es nicht nur einen einzigen Donnervogel. Es verhielt sich eher so, dass ein Donnervogel, war seine Zeit gekommen, sein Vermächtnis an einen Jüngeren weitergab.
So sollte es auch bei einem sehr, sehr alten Donnervogel sein. Er war längst aus seinen besten Jahren heraus und eines Tages wollte er seine Aufgaben seinem Erben übertragen. Dieser hatte sich zu der Zeit aber zu Verhandlungen mit den Windfüchsen begeben. Die Windfüchse waren die Erzfeinde der Donnervögel. Ihr Handeln sorgte immer für Dürre, Missernten und Hungersnöte bei den Menschen. Sie waren zu übermütig geworden, weshalb die Menschen in dieser Zeit sehr zu leiden hatten.
Als der junge Donnervogel nicht rechtzeitig heimkehrte, blieb dem Alten keine andere Möglichkeit, als einen weiteren Flug anzutreten. Es sollte sein Letzter sein, doch davon ahnte er noch nichts. Müde von der Last seiner Jahre machte er sich auf den Weg. Er flog weit in die Lüfte hinauf, seine mächtigen, majestätischen Schwingen ein weiteres Mal spreizend. Innerhalb kurzer Zeit, nachdem er von seinem Horst in den Bergen aufgebrochen war, erreichte er die Länder der Menschen. Hinter sich zog er dicke, regenschwere Wolken her. Noch während er gedankenversunken durch die Lüfte schwebte, schoss plötzlich von der Seite ein junger Windfuchs heran. Völlig überrascht konnte der alte Donnervogel nicht mehr rechtzeitig ausweichen und der Windfuchs biss ihm in die Schwinge. Direkt danach setzte er zu einem zweiten Biss an. Dieser war gegen die Kehle des Vogels gerichtet, verfehlte sie aber um Haaresbreite. Denn damit hatte der Donnervogel, welcher nun wieder reaktionsfähig war, gerechnet. Doch wider allen Bemühens, sich gegen die Kraft und Schnelligkeit des jungen Windfuchses zu wehren, nahm die Kraft des Adlers immer weiter ab. Er verlor immer mehr an Höhe. Als der Windfuchs von ihm abließ, war es bereits zu spät. In Form eines infernalischen Gewitters mit Myriaden von Kugelblitzen schlug er auf der Erde auf. Nun existierte der alte Donnervogel nicht mehr.
Das ohnehin schon ausgetrocknete Land der Menschen wurde durch die entstandenen Brände verheerend verwüstet. Sehr viele ließen bei diesem Unglück ihr Leben. Als der junge Donnervogel heimkehrte und davon erfuhr, stieß er einen herzzerreißenden Klageschrei aus, dass es in den Bergen widerhallte. Erzürnt und voller Trauer machte er sich zu den Windfüchsen auf und begann einen heftigen Kampf mit ihnen. Wild tobten dabei die Elemente. Keinen von ihnen ließ er am Leben. Als er den Letzten besiegt hatte, flog er in die Lande der Menschen und half ihnen mit allen Mitteln, ihr Land wieder aufzubauen. Dies bestärkte die Bindung zwischen Mensch und Donnervogel umso mehr.
© Uli Michael Hennig 2022-08-26