von Sarah Niklowitz
An diesem Abend im Mai wagt der Vorhang am Fußende meines Bettes einen schüchternen Tanz mit dem kühlen Abendwind, der sich durch das gekippte Fenster schleicht und mir sanft über die Wangen streicht. Das Licht einer 40-Watt-Glühbirne wirft das Muster meines Lampenschirms auf den hellen Stoff, dessen Verzierung am Tage lediglich aus einem schwarzen Fleck und einer etwa zwei Jahre dicken Staubschicht besteht. Durch die Häuserschluchten dringt das stetige Rauschen des Verkehrs, das mich um diese Uhrzeit in regelmäßigen Abständen mit dem vertrauten Geräusch-Cocktail aus Polizeisirenen und vereinzelt aufheulenden Motoren zur Ruhe kommen lässt. Es ist 22:20 Uhr, der Weltballon hat sein Nachtlicht eingeschaltet und ich wünschte mir, er würde auch nachts am Himmel vor meinem Fenster schweben. Ob sich das blinkende Rot des Fernsehturms und das Blau der Weltkugel da nicht in die Haare bekämen? Wer weiß das schon, vielleicht genießen sie die Einsamkeit der Nacht und die Gesellschaft der leichten Brise, die sich an diesem Maiabend über die Stadt legt, genügt ihnen.
Der Frühling in Berlin lockt die Tourist:innen wieder vermehrt in die Hotelzimmer gegenüber und hinter den hell erleuchteten Fenstern spielen sich die alltäglichen Szenen der Menschheit ab. In diesen Momenten unterscheidet mich rein gar nichts von diesen Fremden in ihren Einzel- und Doppelzimmern für 79 Euro pro Kopf. Ein Fernseher flimmert, Kleider werden an- und wieder ausgezogen, Zähne geputzt, weiße Hotelhandtücher zum Trocknen aus dem Fenster gehängt und in jedes Gesicht weht genau jetzt derselbe Wind. Ich frage mich, ob sie das abendliche Treiben der Stadt ebenso sanft in den Schlaf begleitet, wie mich oder ihnen die ohrenbetäubende Stille der gewohnten Umgebung fehlt. Wie immer gehe ich davon aus, dass sämtliche Besucher:innen dieser Stadt aus einem kleinen Ort südlich von Hannover kommen. Den Kennzeichen der Autos auf den Hotelparkplätzen zufolge ist dies eine Tatsache. Die Vielfalt an Dialekten, die mir zu Ohren kommt, sobald ich in die Ibis-Straße, die eigentlich Anhalter Straße heißt, biege, bewegt sich ebenfalls stets zwischen Bayern und Baden-Württemberg und unterstützt meine These.
Der Duft in meiner Nase scheint nicht zur Geräuschkulisse zu passen. Während sich elf Stockwerke tiefer die Abgase von S-Klasse und Porsche mit den feinen Noten des mexikanischen Restaurants vor meiner Haustür vereinen, riecht die Luft hier oben abgesehen vom Zigarettenrauch des Nachbarn fasertief rein. Es duftet nach Wolken, Licht und Freiheit. In den Armen dieser Freiheit sinke ich in meine Kissen und nur zwei Sirenen später träume ich von keinem anderen Ort als diesem.
© Sarah Niklowitz 2024-05-23