von AgMa
In einem Wald stand ein altes kleines Haus. In diesem wohnte eine alte Frau mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin, deren Mutter bei ihrer Geburt verstorben war. Die Tochter hatte ein bildhübsches Aussehen und jedem Mann, den sie begegnete, verdrehte sie den Kopf, um ihn danach auch gleich wieder stehenzulassen. Die Enkelin jedoch hatte ein hässliches Aussehen, sodass jeder einen großen Bogen um sie machte. So wuchs das Mädchen bei seiner Großmutter auf. Diese liebte es so sehr, wie ihr eigenes Kind. Die Tochter, die nicht viel älter als ihre Nichte war, hasste sie dafür. Mit ihrem Jähzorn und ihrem Stolz behandelte sie das Mädchen wie eine Hausdienerin und ließ sich alles Mögliche einfallen, um es zu erniedrigen. Das hässliche Mädchen, namens Roselin, aber blieb still und ging ihren Tagesarbeiten nach. Erst abends, wenn alles schlief, konnte sie ihrem Leid in ihren Tränen freien Lauf lassen. Nur die Großmutter wusste davon. Hin und wieder nahm sie die Enkelin in die Arme, um sie zu trösten und ihr Mut zuzusprechen, wenn es gar zu schlimm war.
Nachdem die drei Frauen lange so dahin gelebt hatten, kam die Zeit, da die Großmutter im Sterbebett lag. So wurde es für Roselin noch härter. Die gute alte Frau rief sie schließlich zu sich und riet ihr, hinaus in die Welt zu einem weisen Mann zu gehen, der hoch oben auf den Berggipfeln lebte. Dort solle sie Rat erbeten, wie sie zu einem besseren Leben gelangen könne. Als die Großmutter begraben und das wenige Erbe ungerecht aufgeteilt war, brach Roselin also auf. Viele Monate durchwanderte Roselin Wälder, Felder, Dörfer, Städte und Berge. Bei helfenden Gastgebern verweilte sie nirgends länger als nötig, nur zum Schlaf und zum Schutz unterm Dach vor Regen, Schnee und Stürmen. Trotz Mühe und Plage ging sie ihren Weg. Als sie vor Ermattung aufgeben wollte, schöpfte sie mit allerletzter Kraft Hoffnung, da sie auf dem Berggipfel ein Haus erspähte.
Dort angekommen entdeckte sie am Tor einen Spiegel. Sie sah sich nach einer Möglichkeit um, wie sie durch das Tor gelangen konnte. Nachdem sie eine winzig kleine Glocke gefunden hatte, die versteckt in einer Nische war, läutete sie. Der Spiegel, der in diesem Moment lebendig zu werden schien, zersprang plötzlich in mehr als tausend Scherben und manche verletzten ihre Haut. Vor Schreck und Schmerz verzerrt, erstarrte sie. Eine männliche Stimme brüllte vom Inneren des Tores: „Wer wagt es, meinen Schlaf zu stören!“ Das Tor wurde geöffnet und herauskam ein kleiner, weißbärtiger, alter Mann, gestützt auf einen Stock. Er blickte zu Rosalin auf und runzelte seine Stirn. Dabei meinte er: „Bei deinem Antlitz ist es kein Wunder, dass dieser Spiegel zersprungen ist.“ Roselin schluchzte. Er fragte sie nach dem Grund ihrer Traurigkeit. „Ich habe gehofft, dass du mir helfen würdest. Meine Großmutter hat mich zu dir geschickt, um Rat zu erbeten, wie ich ein glücklicheres Leben erlangen könne.“ Da sagte der alte Mann, dass er jetzt ihr Leid sähe und ließ sie in den Hof hinein. Darin war ein Garten mit vielen Tieren und Pflanzen und einem Haus. Und überall befanden sich Spiegeln, sodass man schwer erkennen konnte, wie viele Tiere und Pflanzen hier lebten. Roselin wurde von dem alten Mann gut versorgt und sie erzählte ihm ihre Lebensgeschichte.
© AgMa 2023-08-26