Der will doch nur spielen

Sandra E. Mae

von Sandra E. Mae

Story

Carmen blinzelt. Sogar von der Tribüne aus kann ich sehen, dass ihre Hand zittert, als sie sie nach oben hebt und fragt: “Kannst du die Anweisung nochmal wiederholen, Bernhard?” Der Regisseur schlägt die Beine übereinander. “Romeo kommt in den Garten. Julia überrascht ihn mit einem Striptease.” – “Aber in Shakespeares Originalfassung…” – “Wir spielen nicht das Original, Carmen.” Sie lässt die Schultern sinken. Ich auch. Wohl ist mir bei der ganzen Sache nicht. Klar, wir haben schon öfter Liebesszenen erarbeitet, unter der Anleitung männlicher, als auch weiblicher Intendanten. Aber mit Bernhard ist es anders. Bernhard inszeniert nicht. Bernhard… ja, was tut er eigentlich da? “Du willst doch Schauspielerin werden, oder? ” Carmen wechselt mit Tom, der den Romeo spielt, die Blicke; dann nickt sie schließlich. “Ok.” Bernhard lehnt sich in seinen Stuhl zurück, die Hände hinter dem Hinterkopf verschränkt.

“O Romeo”, beginnt Carmen. “Verleugne deinen Vater und entsage deinem Namen…” – “Geh ihn direkt an”, ruft Bernhard dazwischen. “Oder willst du nicht, so schwöre mir nur deine Liebe…” – “Entblöße deine Brüste vor ihm.” – “Aber…” – “Willst du Schauspielerin werden oder nicht?” Ja. Natürlich will Carmen das. So wie ich. So wie wir alle hier.

Carmen zieht die Bluse hoch. Sie trägt einen transparenten BH. “Fass sie an”, adressiert Bernhard Tom, der wie versteinert da steht, “du sollst dich kaum noch halten können.” Tom blickt Carmen fragend, an, und als sie nickt, streckt er zaghaft seine Hand nach ihr aus. “Doch nicht so!”, bellt Bernhard. Er steht auf, stapft auf die Bühne. “Ordentlich!” Und schon liegen seine Pranken auf ihren Brüsten, umfassen sie, drücken sie, kneten sie, als wolle er Zitronen auspressen. “Die verträgt das schon.”

Carmen sagt nichts. Tom sagt nichts. Ich sage nichts. Niemand sagt etwas. Betretenes Schweigen, peinlich berührtes Starren. Passiert das gerade wirklich? Wenn ja, was genau passiert? Ein Schauspielworkshop? Eine Neuinszenierung von Romeo & Julia? Oder eine öffentliche zur-Schau-Stellung zweier junger Schauspielstudenten, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, während sich ihr “Lehrer”… Mir wird schlecht. Warum, weiß ich nicht.

“Du willst doch Schauspielerin werden.” Ein K.O.-Argument, das immer angewendet werden kann. “Könnte ich statt der Unterwäsche ein Nachthemd tragen?” – “Du willst doch Schauspielerin werden.” – “Mir ist nicht wohl bei der Szene. Ich würde gern nochmal in Ruhe mit dir darüber sprechen.” – “Du willst doch Schauspielerin werden.”

Darf der Regisseur der Darstellerin an die Brüste fassen, um die Inszenierung voranzutreiben? “Du willst doch Schauspielerin werden.” Verdammt, dann tu, was Man(n) dir sagt.

Bernhard ist inzwischen zur Tribüne zurückgegangen. Hingesetzt hat er sich aber nicht. Stattdessen klatscht er einmal in die verschwitzten Hände, die Hände, die gerade Zitronen ausgepresst haben. “Von vorn!”

Und wir sehen zu. Und sagen nichts.

© Sandra E. Mae 2021-08-02

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