Der Zwerg, der ein Riese war

Andreas Schwarz

von Andreas Schwarz

Story

Ihre wahre Größe offenbaren die Dinge erst, wenn sie verloren sind. Dann klafft an der Stelle, wo sie fehlen, eine Lücke, wie sie nur ein Riese hinterlassen kann. Diese Geschichte erzählt davon.

Sie handelt von einer Frau, unter deren abweisende Blicke der Mann an ihrer Seite zu einem kümmerlichen Zwerg schrumpfte. Keine Minute verging, in der sie nicht ihr Dasein beklagte.

„Warum kann ich nichts Besseres haben als ihn?“, schätzte sie seine Gesellschaft gering.

Der Mann mühte sich redlich, seiner Frau jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Er schaffte die besten Speisen für sie heran. Seine Frau aß die Teller bis auf den letzten Krümel leer. Mit vollem Bauch zog sie eine saure Miene. Für sie war es bloß die Mahlzeit eines Zwerges gewesen.

„Von diesem Fingerhut soll ich satt werden.“, nörgelte sie.

Zum Beweis seiner Liebe kaufte der Mann ein prächtiges Haus auf einem Hügel. Aber in den Augen seiner Frau war es bloß die Behausung eines Zwerges.

„In einer winzigen Hütte muss ich wohnen.“, rümpfte sie die Nase.

Die Liebe des Mannes blieb unerschütterlich. Was er sich an den Fingern absparte, verschwendete er an prächtigen Gewändern für seine Frau. Aber selbst die feinsten Stoffe wollten ihren Ansprüchen nicht genügen. Es waren bloß die Kleider eines Zwerges.

„In Lumpen muss ich gehen.“, herrschte sie ihn an.

Der Mann ertrug die Nörgeleien seiner Gattin ohne ein böses Widerwort, bis der Tag kam, an dem er sich ein Kind von ihr wünschte.

„Zur Mutter eines Gnoms willst du mich machen.“, höhnte seine Frau verächtlich.

Für sie war es bloß das Kind eines Zwerges.

Der Mann blickte seine Frau bitter an.

“Dein Herz ist zu kalt für meine Liebe.”, sagte er. Dann packte er seine Koffer und verschwand schweigend aus der Tür.

Zuerst weinte ihm seine Frau keine Träne hinterher.

„Meine besten Jahre habe ich mit einem Zwerg vergeudet.“, bedauerte sie sich selbst.

In den Monaten danach ereigneten sich seltsame Dinge. Kein Essen wollten der Frau wieder so gut schmecken wie die Köstlichkeiten, die ihr Mann für sie zubereitet hatte. Je prächtiger sie ihre Villa ausschmückte, desto langweiliger empfand sie das Haus im Licht der Jahre, die sie mit ihm dort verbracht hatte. Nicht anders erging es ihr mit den Kleidern, die in den Schränken verstaubten. Wie zum Hohn strahlte sie in den Stücken am schönsten, die er für sie ausgesucht hatte.

Die größte Schwermut überfiel die Frau jedoch bei dem Gedanken an das Kind, das sie nie geboren hatte.

Im selben Maß wie ihre Sehnsucht nach der vergangenen Zeit wuchs, veränderte sich auch die Erinnerung an den Mann, der sie vergeblich geliebt hatte. Mit jedem Jahr gewann er an Größe. Da erkannte die Frau seine wahre Gestalt.

Aber es war zu spät. Nichts schenkte ihr mehr Trost. Der Schatten, der ihr Herz verdunkelte, hing ein Leben lang über ihr. Er war so groß wie ihn nur ein Riese hinterlassen konnte.

© Andreas Schwarz 2022-11-24

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