Die letzte Botschaft

Steppenwolf

von Steppenwolf

Story

„Es ist bedauerlich…“

Der kleine quadratische Papierzettel erschien angesichts der Schwere der Botschaft, die auf ihm verewigt worden war, noch mehr an Größe einzubüßen. Zu skurril wirkte die Vorstellung, seine Ansichten und Vorstellungen über die Welt, selbst angesichts des nahenden Todes, auf diese drei winzigen Wörter zu beschränken. Die Intention dieser letzten Worte war ebenso abstrakt wie wertend. Die, in geschwungener Schreibschrift, fein säuberlich auf den kleinen bräunlichen Zettel geschriebenen Worte, schienen jeden Lebenden zu mahnen und ihm die Schuld für alles zuzusprechen, für das man die Toten nicht mehr verantwortlich machen konnte. Die drei kleinen Punkte am Ende des Satzes unterstrichen noch die Rätselhaftigkeit der Totenbotschaft.

Alex riss seinen Blick von dem Zettel los, der nun eingetütet neben der Leiche lag. Ein Kärtchen markierte die Tüte als Beweisstück C. Beweisstück A war die Glock 17, die der Tote noch immer in der linken Hand hielt. Beweisstück B war die Hülse der 9mm-Patrone, die erst den Kopf des Mannes seitlich durchbohrt hatte, bevor sie dann in dem vergoldeten Wandspiegel neben dem Bücherregal eingeschlagen war. Die Rückwand samt Wandverkleidung hatte es auseinandergerissen. Auf dem großen schweren Teppich, der das Parkett fast vollständig verdeckte und auf dem sich der grausige Vorfall ereignet hatte, war zwischen Spiegel und Leiche bedeckt von Glassplittern und Blutspritzern. Die Überreste des Spiegels waren ebenso mit Blut und Hirnmasse besprenkelt, wie die Wand und Teile der drei Meter hohen Holzdecke. Selbst auf einigen der Bücher waren Tropfen zu erkennen, die teilweise über mehrere Regalreihen nach unten gelaufen und dort eingetrocknet waren. Die Wohnung selbst war durchsucht worden. Und zwar gründlich. So viel stand fest. Schubladen waren herausgezogen und umgestülpt, Bücher aus dem Schrank zu Boden geworfen und Papierstapel durchstöbert worden. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Alex sah auf die Uhr. Halb Fünf morgens. Fuck. Er zog die Handschuhe aus, kratzte sich an seinem unrasierten Kinn und fuhr sich danach mit der Hand durch sein zerzaustes Haar. Ein kurzer Schauer lief ihm über den Rücken. Es war kalt. Selbst für Oktober. Er zurrte seinen beigen Parka noch enger zusammen und steckte die Hände in die tiefen Seitentaschen. Gefühlslos betrachtete er den Tatort. Das Schreckliche hatte ein bemerkenswertes Talent dafür, einen Menschen über die Zeit abstumpfen zu lassen.Er spürte nichts. Der Tod dieses Typen war ihm vollkommen egal. Die Umstände darüber, wie sich der Tod ereignet hatte, ja, das interessierte ihn. Das war sein Job. Aber der Mann an sich? Er gähnte. Er wollte eine rauchen und einen Kaffee. Ein letztes Mal schaute er hinunter zu dem Toten. In der Tat, wirklich bedauerlich …

© Steppenwolf 2021-05-20

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