Die Mathematik – Professorin

Ingrid war keine gute Schülerin gewesen. Sie quälte sich schrecklich mit Mathematik ab. Frau Professor hatte vier Jahre lang Geduld, machte keinerlei Unterschiede oder abwertende Bemerkungen. Die mündliche Mathematik – Matura bestand Ingrid mit Bravour. Frau Professor gratulierte ihr lachend und sehr herzlich: „Ingrid, du warst die Überraschung der Matura. Was da noch alles in dir steckt!“ Dieses Lob hatte Ingrid nie vergessen.

Jahrzehnte später lernte Ingrid zufällig eine lockige Dame, Therapeutin um die fünfzig, kennen. Sie erzählte lebhaft vom Garten der Hauseigentümerin, einer früheren Lehrerin weit in den Neunzigern. Alles korrekt, kein Unkraut, kein Gräschen auf den Kieswegen, alle Blumen Ton in Ton. Ingrid fragte nach dem Namen. Kaum zu glauben, es war die Mathematik – Professorin von damals!

Sie erzählte, nach ihrer Pensionierung habe die Lehrerin angefangen, ein Haus zu bauen. Das alte Haus habe sie ins Tobel hinunter-schieben lassen. Wenn man da hinunterklettern würde, könne man immer noch Fliesen oder Ziegel finden. Dann habe sie ein großes Haus mit mehreren Wohnungen gebaut, in dem auch die lockige Dame wohnte.

Bis vor einem Jahr wäre die alte Lehrerin noch flott mit ihrem gepflegten Opel – Oldtimer unterwegs gewesen. Nun wolle der Körper nicht mehr so. Die Verwandten haben ihr das Fahren verboten, das wäre zu gefährlich für sie und die anderen. Jeden Morgen bringe ihr die lockige Dame das Frühstück und gehe nicht, bevor sie es aufgegessen habe. Ihr zuliebe habe sie, eine überzeugte Vegetarierin, gelernt, Hühnersuppe zu kochen. Mitten in der Metzgerei sei sie gestanden und habe nach dem Rezept gefragt. Was für ein Gelächter der anwesenden Kunden! Für die Lehrerin würde sie wirklich alles machen.

Jeden Tag gingen sie gemeinsam in den Garten. Das imposante Moor–Beet habe sie erst mit achtzig angelegt. Dazu musste sie eine tiefe Grube ausheben. Sie schaufelte mit der ihr eigenen Gründlichkeit so tief hinunter, bis man sie nicht mehr sehen konnte. Diese Anstrengung war dann doch zu viel. Die lockige Dame fand sie bewusstlos unten liegend: Herzinfarkt!

Das hinderte die alte Lehrerin nicht lange. Schon wieder werkelte sie im Garten. Die lockige Dame rief nach ihr. Zuerst tauchte die Sense aus dem Tobel auf, dann langsam die Lehrerin hinterher. Der Abhang ins Tobel wäre zu steil, das Mähen könne man sonst niemandem zumuten.

Geistig sei sie immer noch topfit, nur der Körper wolle nicht mehr so recht. Sie lese viel, kenne alle Schüler mit Namen und Schuljahrgang. Ingrid bezweifelte, ob sie sich wohl noch an sie erinnern könne. Bestimmt, meinte die lockige Dame. Von wem darf ich ihr erzählen? Von Ingrid, einer schlechten Schülerin. Sie sende ihr einen lieben Gruß und ein Dankeschön. Oft habe sie sich gefragt, wie es der Professorin im Alter gehe. Sie freue sich sehr und könne kaum glauben, dass dieses Treffen ein Zufall war.

„Sie wird sehr geliebt“, sagte die lockige Dame.

Foto: Takashi Kato auf unsplash