von Hannes Stuber
Karfreitag am Morgen, es läutete an der Haustür. Ich konnte nicht öffnen. Meine Gattin war mit meinem Auto und meinem Haustürschlüssel unterwegs, um Blumen zu kaufen. Unser Sohn war mit ihrem Auto und ihrem Haustürschlüssel in Kärnten. Ich lief zum Küchenfenster und rief hinaus. Drei Mädchen im Volksschulalter kamen vor das Fenster. Sie drehten ihre Handratschen und sangen drei Strophen eines christlichen Liedes. Ich sagte, dass wir seinerzeit etwas anderes gesungen hatten, und trug ihnen meinen alten Ratschenspruch vor. Sie kannten ihn nicht. Für den Pfarrer spendete ich einen kleineren Betrag, den Mädchen gab ich das Vierfache.
Ich schloß das Küchenfenster und dachte an die Zeit, als ich selber mit einer Ratsche durch das Dorf gezogen war. Es lag beinahe sechs Jahrzehnte zurück. Damals arbeiteten die Amerikaner eifrig an der Mondlandung, Kennedy lebte noch, und im Radio hörten meine Mutter und ich, wie schwedische Wissenschaftler Zweifel an dem Projekt anmeldeten. Sie meinten, falls die Mondoberfläche aus Eis bestünde und diese bei der Landung platzte, könnten die Brocken auf die Erde herunter fallen und uns alle erschlagen.
Der alte Brauch des Ratschens besagt, die Kirchenglocken flögen in der Osterwoche nach Rom, um vom Papst gesegnet zu werden. Da sie nicht läuten können, müssen die Ratschenkinder diese Funktion übernehmen. Früher hatten die Menschen den Winter mit viel Lärm vertrieben, wir zogen mit Ratschen durch das Dorf, mit Schubkarrenratschen. Mädchen war es nicht erlaubt, nur die Buben der dritten und vierten Klasse der Volksschule durften lärmerzeugend durch das Dorf marschieren. Ich hatte lange drauf gewartet, auch dabei sein zu können. Wir waren zu sechst, gingen in drei Zweierreihen, schoben die hölzerne Schubkarre vor uns her. Alle paar Minuten hoben wir die Ratsche in die Höhe und ließen unseren Text vom Stapel. Der erste Teil des Ratschenspruches wurde in getragenem hexameterähnlichem Sing-Sang geäußert: “Wir ratschen, wir ratschen zum Englischen Gruß, auf dass ein jeder Christ beten muss.” Dann wurden wir eine Nuance schneller: “Drum fallet nieder auf eure Knie!“ Die vierte Zeile erfolgte im Stakkato: “Betet drei Vater-Unser und ein Ave-Marie!“ Eine Zehntelsekunde nach der letzten Silbe sausten die Schubkarren zu Boden. Der kombinierte Höllenlärm knatterte los. Unmöglich, dass uns irgend jemand nicht hörte.
So zogen wir von Montag bis Freitag dreimal täglich durch das halbe Dorf, morgens, mittags und um drei Uhr am Nachmittag. Die zweite Hälfte des Dorfes betreute eine andere Sechser-Gruppe. Am Vormittag des Karsamstag gingen wir abkassieren. Die Dorfbewohner spendeten ein paar Münzen. Wir teilten den Betrag durch sechs. Am Ende erhielt jeder hundertfünfundzwanzig Schilling. Für einen Neunjährigen zu Beginn der Sechziger Jahre war das eine Menge. Anbetracht dessen, dass uns vielleicht die Eisbrocken des Mondes erschlagen könnten, beeilte ich mich, das Geld auszugeben.
© Hannes Stuber 2022-04-15