Die Ratte

Anna_Gram

von Anna_Gram

Story
Im Graben wo die Wölfe heulen

Dieser Schuh im Wald. Es ist ein alter Soldatenstiefel. Er liegt im Graben. Im Graben, wo die Wölfe heulen. Er ist moosbewachsen und lässt sich nicht mehr zubinden, denn der Schnürsenkel fehlt. Er bindet auch ohne Spagat, eine seltsame Anziehung geht von ihm aus. Dort im Wald verrottet der Stiefel seit Jahrzehnten und Spazierende gehen daran vorbei, berühren ihn mit den Augen bloß. Unheimlich, das gähnende Maul, in dem die Schuhzunge ledern verschimmelt.

Ich habe mir vorgestellt, dass eine fette Ratte im alten Soldatenstiefel haust. Erschrocken denkt man: „Der Schuh lebt!“, wenn das hungrige Nagetier es sich darin zu Recht macht und der borstig behaarte, ekelhaft rosa Schwanz sich heraußen windet. Diese Ratte liegt auf der Lauer und frisst alles. Zunächst ist es ein kleiner, blauer Singvogel, der sich vorsichtig seinem vermeintlichen Jausenwurm nähert. Tiefes Gurren hypnotisiert das Tier und die Ratte attackiert mit aufgerissenem Maul voller spitzer Zähne. Es ist ein Happen bloß für dieses Monster, das sich uns hier schrecklich offenbart: Das schwarze Loch klafft, des Vogels Blut spritzt, diese Ratte ist nicht satt. Auf Nimmerwiedersehen, Zwitscherer!
Das lüsterne Viech kommt aus dem Labor, es ist eine Mutantin aus der Unterwelt. Manche munkeln, sie bestehe unter anderem aus Hai-DNA, weil sie dutzende Reihen Zähne hat und diese auf ewig nachwachsen werden. Die Ratte hat auch den Soldaten verspeist und seine stinkenden, verschimmelnden Überreste in Besitz genommen. Seine Kameraden waren entsetzt und haben die Geschichte damals niemandem erzählt. Was im Wald geschieht, bleibt im Wald. Seitdem greift niemand diesen Stiefel an. Zu Vollmond, besonders in kalten Herbstnächten, kriecht die Ratte aus dem Stiefel und verfolgt die Spur des frischen Duftes ihrer saftigen Beute. Das Viech hat nur ein Auge, das andere ist ein eitriges Loch aus dem sie manchmal ätzenden Schleim spritzt. Das graue Fell ist verklebt und dreckig. Sie huscht keuchend in die Häuser und findet mit ihrem Hypergeruchssinn die Kinder in ihren Betten. Dort hypnotisiert die Ratte sie im Halbschlaf, reißt ihr tödliches Maul auf, verschlingt das schreiende Kind wie den Singvogel. Es spritzt das Blut und die Eltern weinen.

An einem kalten Herbsttag erzählte ich diese Geschichte beim Spazierengehen meinem Nachbarn, ein fünfjähriger Bub. Ich schlief daraufhin hervorragend und träumte von meinem Schwarm bei Vollmond. Beim Frühstück fragte mich meine Mutter, was ich dem Buben denn am Vortag erzählt hätte. In der Nacht hat die Nachbarin besorgt bei uns angerufen, weil ihr Sohn am Boden lag und schrie, außer sich vor Panik weinte, und partout nicht ins Bett wollte. Der Grund war, dass die Mama ihm nicht erlaubte Süßigkeiten nach dem Schlafengehen zu essen.
Aha. Dann fiel es mir ein: Wir waren im Wald an diesem Stiefel vorbeigekommen und ich hatte dem Nachbarn die Geschichte der fetten Mutantenratte erzählt. Der Bub hat sich so vor der Ratte gefürchtet, und weil ich die Magie nicht zerstören wollte, habe ich eine TicTac-Packung aus der Tasche genommen und ihm gesagt, wenn er vor dem Schlafengehen heute zwei TicTacs isst, dann wird ihn die Ratte nie im Leben finden können. Es müssten einfach genau zwei TicTacs vor dem Schlafengehen sein. Beruhigt, hatte ich ihm die Packung gegeben.

© Anna_Gram 2024-04-22

Genres
Spannung & Horror, Humor& Satire