Die weiße Weste

Maddy

von Maddy

Story

Es war eine ruhige und friedliche Wochenend-Nacht. Im Tiefschlaf genieße ich träumend die Stille. Plötzlich sehe ich ganz real das Gesicht meines vor 30 Jahren verstorbenen Onkels vor mir. Er ist der Bruder meiner Mutter und mein Lieblingsonkel gewesen.

„0hh ich hab so lange warten müssen, länger als jeder andere, aber jetzt kommt sie bald! Sie kooooommt!” strahlt er mich fröhlich an. Er zeigt mir das Gesicht meiner Mutter.

Sie ist wohlauf und wird sicherlich 300 Jahre alt, entgegne ich. Plötzlich wird sein Gedichtsausdruck sehr ernst: „Wenn du dich da mal nicht täuschst!”.

Als ich 2 Tage später eine auffällige schwarz, weiß und grau gefärbte Feder finde, erinnere ich mich wieder an diesen Traum. Es war doch ein Traum, oder?

Federn sind immer Botschaften von den Engeln. Was wollen sie mir wohl mitteilen frage ich mich, während mir die Junisonne ins Gesicht scheint? Etwas Positives und Negatives zugleich, weil die Feder schwarz und weiss ist? Ein Gefühl tiefen Friedens erfüllt mich auf dem Heimweg.

Am nächsten Tag kann ich es kaum glauben, denn beim harmlosen googeln lese ich meinen eigenen Namen im Internet. Als Tochter stehe ich weit oben unter den Kondolierenden in der Traueranzeige.

Meine Mutter ist am Tag, als ich die Feder gefunden habe, verstorben.

Niemand aus meiner Familie hat es mir mitgeteilt. Aber in die Traueranzeige wurde ich ungefragt reingeschrieben.

Mein Onkel hatte also recht gehabt.

Und ja, es war ein Gefühl von Traurigkeit und Erleichterung zugleich-ähnlich ambivalent wie die Feder.

Ihre Beziehung zu mir war geprägt von Lieblosigkeit, emotionaler Kälte und blankem Hass. Nach Außen hin die perfekte, liebenswürdige Mama, nach innen ein gewalttätiger, alkoholabhängiger Teufel.

Aber anstatt diese kaltherzige Person mit 18 zu verlassen, habe ich mich mit ihren Schmeicheleien, sie wolle doch nur mein bestes und sei doch schließlich meine Mutter immer wieder vertrauensvoll einwickeln lassen. Erst mit fast 80 Jahren hat sie zugegeben, dass sie nicht meine leibliche Mutter ist. Meine Abstammung ist bis heute ungeklärt. Sie hat beharrlich geschwiegen, mich wie immer von allem ausgeschlossen und sich aus dem Leben geschlichen.

Sie wollte mich nicht-damals wie heute. Sie hat mich gehasst bis in den Tod. Ich war ihr Universal-Sündenbock. Wichtig war ihr nur, was die anderen denken: die Nachbarn, die Freunde, die Bekannten die Verwandten und die Geschäftspartner. Wie sieht es auch aus, wenn….Der schöne Schein von der perfekten glücklichen Supermutter musste um jeden Preis gewahrt werden. Ihre Weste musste unbedingt weiß bleiben. Weiß wie ein unbeschriebenes Blatt. Weiß wie die unbefleckte Empfängnis.

Ja, ihr Tod war ein letztes Ausatmen für sie und zugleich ein erleichtertes Einatmen für mich. Es war ein Gefühl, als ob ich nach Jahrzehnten endlich wiederrichtig Luft bekomme zum Atmen.

Luft zum Leben.

© Maddy 2020-11-03

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