Die Welt erobern

Thorben Kremer

von Thorben Kremer

Story
New York, Brooklyn 2024

,,Wacht auf! Heute ist ein guter Tag, um die Welt zu erobern!“ Wer zum Teufel schreit da draußen um 7 Uhr morgens herum? Ich blicke aus dem Fenster, ein sonniger Herbstmorgen in Brooklyn. Ja, es ist sonnig, und die roten BlĂ€tter der AhornbĂ€ume zieren die Straße, aber ist das ein verdammter Grund so herumzubrĂŒllen? Nicht alle haben so gute Laune wie du, nicht alle so ein GlĂŒck. Ich habe schon wieder nichts geschafft in diesem Jahr, immer noch nichts geschrieben, kein Geld verdient, niemanden etwas genĂŒtzt. Und du musst mich an meinem freien Tag aus dem Schlaf reißen, weil du meinst, die Welt sei toll? Zu gerne möchte ich wissen, wie man morgens schon so positiv ist. Und er soll sehen, dass es Menschen gibt wie mich, die einfach nichts taugen, von wegen Welt erobern. Meinen Mantel geschnappt eile ich hinunter, um den Mann zu verfolgen, zu beobachten und zur Rede zu stellen. Was hat dieser Mann vor? Oder will er die Mitmenschen nur neidisch machen. UnauffĂ€llig verfolge ich also diesen mysteriösen Herren, der einen weißen Mantel und Zylinder trĂ€gt, doch geschwind dreht er sich zu mir: „Hallo mein lieber, lass uns die Welt erobern!“ – „Wieso sollten wir?“, frage ich wenig begeistert. „Wenn nicht heut, wann dann?“, sagt er lĂ€chelnd. Wieso weiß ich nicht, aber ich folge ihm. Immer wieder ruft er seinen Spruch, doch all die Menschen auf dem Weg zur Arbeit beachten ihn kaum, die meisten schauen sowieso auf ihr Handy. Beim Laufen, beim Warten, ĂŒberall. FrĂŒher verabscheute ich das noch, doch irgendwann denkt man, wenn alle, dann eben auch ich. Mir wĂ€re dieser Mann sonst niemals aufgefallen, höchstens hĂ€tte ich kurz hochgeschaut und gedacht, was ein Irrer. Erst kommen wir an einem frisch verliebtem PĂ€rchen im Central Park vorbei, man sieht genau, dass sie glĂŒcklich sind, der Mann hĂ€lt einen Ring hinter seinem RĂŒcken. Ich ertappe mich beim LĂ€cheln. Wir sehen einen jonglierenden Schausteller, keiner schaut hin außer wir, er lĂ€chelt zufrieden. Am Timesquare liegt ein Mann auf dem Boden, droht zu ersticken, wir helfen ihm. Gestern hĂ€tte ich gedacht, hier liegen halt Junkies. Wir sehen so viel, die Sonne, riechen Zimtschnecken, sehen Menschen, ich meine, wir sehen sie. GlĂŒckliche, traurige, lustige, wĂŒtende. Es gibt sie, doch sie sind in der Unterzahl. Die meisten sehen wir nicht, und sie uns nicht. Wie in Hypnose, mit diesem an der Hand festgewachsenem GerĂ€t. Zu den soll ich auch gehören? Nein! Nun rufen wir gemeinsam: „Wacht auf, heute ist ein guter Tag, um die Welt zu erobern!“ SpĂ€t Abends kommen wir wieder an meinem Apartment an. Ich frage ihn noch: „Wieso glaubst du, wir können die Welt erobern?“ – „Du hast heute die Liebe anderer Menschen nachempfunden, hast jemandem zum LĂ€cheln gebracht, jemandem das Leben gerettet, und endlich wieder deine Augen geöffnet fĂŒr all das Schöne, das schon da ist. Du hast heute die Welt erobert“. LĂ€chelnd nicke ich ihm zu, gehe hoch und schreibe diesen Text. Er hat Recht. Seit langem bin ich wieder sehend durch die Welt gelaufen, nicht mit den Augen sehend, sondern wirklich sehend. Vielleicht hĂ€tte ich sofort glauben sollen, denn dafĂŒr ist jeder Tag ein guter Tag. Und wenn ich mit diesem Text auch nur eine Seele dazu zum Nachdenken bringe, wie viel doch in uns allen steckt, wenn wir gegenseitig an uns glauben und uns nicht ignorieren, so glaube ich auch wieder an mich selbst. Und weil ich an euch glaube, tu ich das ab heute! Lasst uns aufwachen.

© Thorben Kremer 2024-10-11

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend, Traurig
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